Video_88 Minutes
Falsch verbunden, Plaudertasche!
Wenn ein angeblich in Echtzeit spielender Film gleich eine Viertelstunde zu lang ist, braucht man Al Pacino sei Dank nicht lange nach einer Erklärung zu suchen. Vor lauter Großaufnahmen bleibt einfach nicht genug Zeit, um gegen tödliche Ultimaten, schwere Gewissenskonflikte, widerspenstige Studenten und ein unausgegorenes Drehbuch anzukämpfen.
27.11.2007
Dr. Jack Gramm (Al Pacino), Psychiater, FBI-Berater und College-Dozent, steht das Wasser bis zum Hals. In den Medien ist sein Name allgegenwärtig, war Gramm doch neun Jahre zuvor hauptverantwortlich für die Verurteilung Jon Forsters (Neal McDonough). Der Mann wurde der serienmäßigen Vergewaltigung, Folterung und Ermordung für schuldig befunden, seine Hinrichtung steht kurz bevor. Stunden vor der Vollstreckung sind Forsters Fall und somit auch Gramms umstrittene Rolle im damaligen Prozeß wieder allgegenwärtig.
Konkrete Beweise gegen Forster konnten nämlich einst nicht zutage gefördert werden. Entscheidend waren vielmehr die Täterbeschreibung einer selbst knapp mit dem Leben davongekommenen Zeugin (Tammy Hui) und die Aussage des renommierten Psychiaters selbst. Während die Zeit für den weiterhin seine Unschuld beteuernden und den Arzt beschuldigenden Forster abläuft, ereignet sich ein Foltermord, der ganz die Handschrift des Verurteilten trägt. Daraufhin überschlagen sich die Ereignisse: Alte Zweifel an der Schuld Forsters werden wieder laut, und es stellt sich heraus, daß Jack - allgemein als notorischer Schürzenjäger bekannt - das junge weibliche Opfer gekannt haben muß und somit selbst belastet wird. Außerdem prophezeit eine elektronisch verzerrte Telefonstimme Gramms Ableben in 88 Minuten.
In "88 Minutes" exerziert Regisseur John Avnet ein mehr oder weniger klassisches "Wettlauf gegen die Zeit"-Szenario durch. Al Pacino gibt den routinierten FBI-Psychiater, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Profilanalyse. Es ist eine Rolle, die für den prominenten Hauptdarsteller wenig Neuartiges, geschweige denn Herausforderndes bereithält. Den selbstbewußten, gerissenen Vollprofi, der schon alles gesehen hat, dem keiner etwas vormachen kann - einen solch altbackenen Part spielt das Filmdenkmal Al Pacino im Schlaf herunter.
Doch bevor die Frage nach den Gründen für die lasche Rollenauswahl des Junior-"Paten" näher erörtert werden kann, ziehen Wolken über die routinierte Performance des Altmeisters. Zum einen wird das "Real Time"-Thriller-Konzept niemals glaubhaft umgesetzt, was in Zeiten des um jede Sekunde feilschenden Echtzeitermittlers Jack Bauer ein deutliches Manko ist. Wirklich nervenaufreibend und involvierend ist Jacks Dilemma - sein Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner und die Zeit selbst - eigentlich nie. Während Dr. Gramm in unregelmäßigen Abständen per Telefon über seine verbleibende Lebenszeit auf dem laufenden gehalten wird, stellt sich zudem heraus, daß Forsters Komplize mit großer Wahrscheinlichkeit einer von Jacks Studenten ist. Somit ist plötzlich jeder verdächtig: der naive Rotschopf Kim (Alicia Witt) ebenso wie die Vorzeigeschülerin Lauren (Leelee Sobieski) und der aufmüpfige Mike (Benjamin McKenzie). Daß Gramm dennoch keinen ernsthaften Versuch unternimmt, den Täter zu stellen und stattdessen Kims gewalttätigen Freund jagt, während die Uhr weiterhin tickt, hat unter diesen Umständen einfach keinen Sinn.
Hinter all diesen Konzeptfehlern und Unsinnigkeiten steckt Drehbuchautor Gary Scott Thompson, der in seinem privaten Karrierekeller einen wahren Leichenberg hortet (unter anderem "Timecop II" oder "K-9: P. I.") und auch von Regisseur Jon Avnet offensichtlich nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. "88 Minutes" ist ein typisches Beispiel für einen berechenbaren Mittelmaß-Thriller, der unklugerweise vorgibt, cleverer zu sein, als er eigentlich ist - und dadurch leider sogar noch unter das vorgesehene Durchschnittsniveau fällt.
Dietmar Wohlfart
Kommentare_