Editorial_28. 10. 2010

Hohlköpfe

In den Straßen fliegen Knallkörper, in den Schaufenstern stapeln sich häßliche Plastikmasken. Unser Chefredakteur erinnert sich daran, daß Allerheiligen und Allerseelen einst besinnliche Feiertage waren.    28.10.2010

Proca gebot nun dem Volk am Berg Palatin’. Unter diesem

Könige hat Pomona gelebt. Von allen Dryaden

Latiums pflegte nicht eine geschickter des Gartens, nicht eine

War mit höherem Eifer der Zucht des Obstes beflissen.

          (Ovid, "Metamorphosen": Pomona und Vertumnus)

 

Auf unserem Eßtisch steht eine kleine Blechfigur.

Vorne ist ein grinsendes Kürbisgesicht aufgemalt; dahinter kann man eine Kerze anzünden, deren Flamme dann auch durch die Aussparungen im Metall leuchtet.

Meiner kleinen Tochter gefällt so etwas.

Na schön, zugegeben, ich finde die Figur auch ganz lustig. Was mich stört, ist der Grund, weshalb sie käuflich zu erwerben war: Hier wird uns ein Ritus oktroyiert, damit moderne Devotionalienhändler ihre Geschäfte machen können.

Um meinen konservativen Abwehrreflex mit Fakten legitimieren zu können, begann ich, nach dem Hintergrund dieses kitschigen Gruseltheaters zu suchen. Wie schon bei dem Bemühen, jenen (meinerseits ungeliebten) Weihnachtsmann in seine historischen Schranken zu weisen, fand ich mich bald im schier uferlosen Sumpf von Religionen, Legenden und datumsmäßig wild übereinandergeschichteten Brauchtümern wieder.

 

Immerhin, das Grundprinzip war einfach zu verstehen. Schon vor Abertausenden von Jahren unterteilten die Bewohner Europas das Jahr in zwei Hälften. Von Anfang Mai bis Ende Oktober - heutiger Zeitrechnung - wurde das Vieh auf die Weide getrieben, wurden Felder bestellt und abgeerntet; mit der Einlagerung der Vorräte begann die dunkle, ruhige Jahreszeit.

Nutztiere, welche absehbar nicht durch den Winter zu bringen waren, wurden geschlachtet und eingepökelt. Nach langen Monaten harter Arbeit konnte man jetzt die Früchte derselben genießen. Es gab Zeit, zu feiern und seine persönlichen Angelegenheiten zu regeln.

Wo nicht mehr ausschließlich körperliche Tätigkeit den Tagesablauf bestimmte, fand sich nun auch Muße für Geistiges: Handlungen wurden ritualisiert - und in der Nacht für Nacht länger währenden Finsternis wurden archaische Ängste in Worte gefaßt; so gediehen religiöse Mythen.


In der elften Neumondnacht des Mondjahres etwa feierten die Kelten Samhain (gälisch: "Sommer-Ende"). Die lebensspendende Sonne wurde verabschiedet, des Todes - und der Toten - gedacht. Propheten und Orakel wurden befragt. Jetzt, da man Zeit hatte, sich der Ahnen zu erinnern, wollte man sie als Ratgeber konsultieren; andererseits sollten sie es sich aber, einmal gerufen, im Diesseits auch nicht auf Dauer gemütlich machen.

In den Nächten des Jahreszeitenwechsels wähnte man die Grenze zur "Anderswelt" durchlässiger als sonst. Speis und Trank wurden für die Toten bereitgestellt. Damit sie jedoch nicht einen Lebenden auswählten, um ihn mitzunehmen oder vielleicht "für ein Jahr in seinem Körper zu wohnen", hielt man sie mit möglichst furchterregendem Schnitzwerk in Schach. Noch besser: Man verkleidete sich gleich selbst als Toter, um die Geister hereinzulegen.

Maskerade und Lichterzauber waren probate Mittel, die eigene Angst zu bekämpfen - und Opfergaben (praktischerweise gerade als Vorräte oder Überbleibsel von Schlachtfesten reichlich vorhanden) schienen dem merkantilen Hausverstand unserer Vorfahren im Sinne von "Geben und Nehmen" ebenfalls recht logisch.

Druiden übernahmen die Kommunikation mit dem Jenseits; sie beschworen die Dämonen und zogen später gabenheischend von Haus zu Haus. Ausgehöhlte Futterrüben, in denen Lichter brannten, erhellten ihren Weg. Wer sich so undankbar zeigte, nicht "spenden" zu wollen, bekam - zumindest - ein böses Symbol auf die Tür gemalt.

 

Auch nach der Machtübernahme durch die Römer (die selber am 1. November ein Erntedankfest zu Ehren der Nymphe Pomona feierten) behielt so alles seine religiöse Ordnung - bis die Christen kamen.

Da den störrischen Kelten ihre Feste nicht auszutreiben waren, wurden von westkirchlichen Oberhäuptern reihenweise katholische Gedenkdaten in den Spätherbst verschoben und auf die heidnischen Feiertage tapeziert. Der Anatolier Nikolaos von Myra z. B. mußte sich um die Perchten kümmern (Nikolo und Krampus), der gebürtige Pannonier Martin um die Schlachtfeste (Martinigans).

Heilige hatten die Monotheisten ja mittlerweile genug. Schon im 4. Jahrhundert feierten sie um Pfingsten all jene, die man im Kirchenkalender sonst nirgends mehr unterbrachte - bzw. deren Namen man schon vergessen hatte. Diesen "Tag aller Heiligen" setzte nun 835 Papst Gregor IV auf den 1. November; und zur Sicherheit schob um 998 Abt Odilo von Cluny einen christlichen Totengedenktag "aller Seelen" hinterher.

Im Eifer des missionarischen Gefechtes gab es auch mancherlei Kompetenzwirrwarr: Der heilige Nikolaus bekam es mit Pökelfleisch zu tun ("Schülerlegende"), und Sankt Martin wurde mit rotem Wintermantel auf weißem Pferd dargestellt (ein Reittier, das Nikolaus ursprünglich vom germanischen Gott Wotan geerbt hatte).

Die Protestanten wiederum begehen ihren "Reformationstag" - Datum des angeblichen Thesenanschlages - ausgerechnet am 31. Oktober. Bei der Gelegenheit vereinnahmten sie auch gleich die Rübenlampen: Am 10.11., dem Geburtstag Luthers und Vorabend der Würdigung seines Namenspatrons, ließen sie Kinder mit Papierlaternen aufmarschieren. In Kindergärten unserer Breiten wird heute noch dieses "Lichterfest" begangen. Außerdem führte man im 16. Jhdt. ein Fest am Abend vor Allerheiligen (All Hallow’s Eve) ein; der Name wurde später zu "Halloween" verballhornt.

(Die Ostkirche allerdings machte das ganze Hütchenspiel der Feiertage nicht mit; bei den Orthodoxen ist Allerheiligen am Sonntag nach Pfingsten, Martini wird am 13. 2. gedacht, und Allerseelen gibt’s nicht.)

 

Es nützte ohnehin nichts.

In Mexiko vermischten sich die von den Spaniern eingeführten Gedenktage mit Riten, welche bis in die Aztekenzeit zurückreichen: Zur Feier des Día de Muertos herrscht heute wochenlanger Jahrmarktstrubel, die Stände sind beladen mit Süßigkeiten wie Totenschädeln aus Schokolade oder Sargminiaturen aus Zuckerwerk - und abertausenden Plastikskeletten in allen Größen.

Als die Iren im 19. Jhdt. massenweise auswanderten, nahmen sie ihre eigene Version von Allerheiligen mit. Dazu gehörte auch eine Rübenlaterne. Der Legende zufolge soll ein übler Trunkenbold namens Jack sogar den Teufel überlistet haben, weshalb ihm nach seinem Tode nicht nur der Himmel, sondern auch die Hölle Zutritt verwehrte. Auf ewig zum Herumirren im dunklen Zwischenreich verdammt, gab ihm wenigstens der Teufel ein Stück glühender Kohle, welches der Sünder fürderhin in einer ausgehöhlten Rübe vor sich hertrug.

Da sich die - in Europa noch unbekannten - amerikanischen Kürbisse weit besser zum Schnitzen eignen, tritt Jack O’Lantern heute eben dergestalt in Erscheinung.

Ein verbreiteter Brauch im Zusammenhang mit Schlacht- und Opferfesten, nämlich Gaben an Bedürftige und Kinder zu verteilen, blieb auch bei uns erhalten: Die Kleinen bekamen Äpfel und Backwerk ("Seelenkuchen") oder konnten sich mancherorts von den Münzen, die anläßlich der Allerseelenprozession auf die Gräber gelegt wurden, "Seelenbirnen" kaufen.

In den Vereinigten Staaten wurde diese Tradition für Halloween adaptiert. Wenn heute allerdings maskierte Kinder um Süßigkeiten von Haus zu Haus gehen und ihr "trick or treat" aufsagen ("Gib uns was, sonst passiert dir was"), gemahnt das wohl nicht zufällig an die Druidenumzüge der Keltenzeit - auch wenn die modernen Protagonisten davon keine Ahnung haben.

 

Im 20. Jahrhundert verkam jener Feiertag, an dem eigentlich der Ahnen gedacht werden sollte, in God’s own country mehr und mehr zu einem ordinären Spektakel mit faschingshaften Elementen. Parallel zu den Gemeindefeiern (samt Blaskapellen und Prozessionen) wurde in der mischief night randaliert und oft beträchtlicher Sachschaden angerichtet. Nebenbei freute sich der Ku-Klux-Klan und nutzte Halloweenmaskeraden zu Übergriffen auf nigger.

Reaktionen blieben nicht aus: Fundamentalistische Kirchen meldeten sich zu Wort und wärmten alte christliche Propaganda von Teufelsbeschwörung und Menschenopfern wieder auf. Der letzte Punkt konnte zwar bislang (in Bezug auf die Praktiken vor 2000 Jahren) wissenschaftlich nicht schlüssig widerlegt werden; aber die modernen Heidenjäger wissen noch mehr zu berichten. Ein Totengott sei Samhain gewesen, dem Druiden lebendig im Feuer gebratene Jungfrauen opferten; Menschenblut hätten sie getrunken und Menschenfleisch gegessen; auch heute noch würden regelmäßig Tiere zu Halloween zerstückelt und kleine Kinder entführt!

Um der gefährdeten Jugend stattdessen zu zeigen, wo Gott wohnt, veranstalten mittlerweile Pastoren in Hunderten amerikanischen Gemeinden um Allerheiligen Alternativprogramme. In gut besuchten Theaterstücken werden homosexuelle Aidskranke "beerdigt", blutige Abtreibungen inszeniert ... und was Gläubigen eben sonst noch so einfällt.

Angeblich konvertieren danach regelmäßig viele Zuschauer zum Christentum.

 

Europa hat sich erstaunlich lange resistent gezeigt. Erst jetzt, nach Jahrzehnten der Aufklärung durch einschlägige Hollywood-Produktionen, finden Halloween-Paraphernalia auch bei uns Absatz. Die Kirche gibt sich alarmiert. Manch ein Würdenträger verleiht seiner Besorgnis Ausdruck, und der Bischof von Nizza warnte bereits vor Jahren, es handle sich um das "höchste Fest der Satanisten aller Welt".

Zur Beruhigung verfaßten - unvermeidlich - zwei deutsche Sozialpädagoginnen ein Buch, in welchem sie von der "Gelegenheit für Kinder, endlich groß und stark zu sein" ebenso schwärmten wie von der "völkerverbindenden" Wirkung solchen Brauchtum-Reimportes.

 

Soweit die Essenz meiner Recherchen.

Es geht mir dabei ähnlich wie mit dem Weihnachtsmann: Zwingende Gegenargumente konnte ich nicht finden.

Ich verspüre zwar nach wie vor kein dringendes Bedürfnis, irgendwelcher Heiliger oder sonstiger Toten zu gedenken; andererseits ist mir unsere Gesellschaft bereits mehr als laut genug - ein besinnlicher Tag zwischendurch hatte bislang nicht geschadet. Und was das "Volk" der US-Amerikaner betrifft (falls man das so nennen kann), möchte ich eigentlich nicht besonders damit verbunden werden.

 

Wenn Sie mich jetzt aber bitte entschuldigen würden; ich muß gehen. Ich habe meiner Tochter versprochen, ihr noch heute abend einen Kürbis zu schnitzen.

Marcus Stöger

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