Editorial_9. 5. 2008

Was kommt nach der Zeitung?

Gute Frage - wie unser geschätzter Gastautor Eberhard Lauth in seinem Weblog findet. Und weil auch wir uns seit vielen Jahren über dieses Thema den Kopf zerbrechen, haben wir ihn gebeten, uns seinen Eintrag als Editorial zur Verfügung zu stellen. Aber lesen Sie selbst ...    13.05.2008

Beginnen wir mit ein wenig Soziologie. Es war in den 60er Jahren, als der an der University Of Chicago lehrende Politikwissenschaftler Morton Grodzins die demographischen Bewegungen innerhalb sogenannter integrating neighbourhoods in amerikanischen Städten untersuchte - also von Gegenden, in denen aforamerikanische und weiße Familien nebeneinander leben. Er bemerkte, daß die meisten weißen Familien gerne in der Gegend bleiben, solange die schwarzen eine Minderheit sind. Wenn sich diese Verhältnisse allerdings ändern, geht das so lange weitgehend unbemerkt, bis eine afroamerikanische Familie zuviel in die Gegend zieht. Dann setzt plötzlich eine weiße Massenflucht ein. Diesen Moment vor dem sogenannten white flight hat Grodzins "tipping point" genannt.

Malcolm Gladwell, ein amerikanischer Journalist und Autor, hat den seit Grodzins in verschiedensten Disziplinen immer wieder angewandten "tipping point" vor ein paar Jahren zum Leitmotiv eines Bestsellers erkoren (auf deutsch: "Der Tipping Point. Wie kleine Dinge Großes bewirken können" - übrigens eine dieser guten Ideen, die man lieber selber gehabt hätte, aber das ist eine andere Geschichte.) Gladwell wendet ihn darin auf alle Bereiche des Lebens an. Es ist müßig, seine Anekdoten hier nachzuerzählen, nur eines ist auffällig: das größte Problem des "tipping point". Man bemerkt immer erst nachher, wenn er eingetreten ist. Und dann ist es meistens zu spät, um sich für die neuen Verhältnisse danach zu rüsten.

Warum ich mich darüber so lange auslasse, hat mit einem Text zu tun, über den ich vor einer guten Woche gestolpert bin. Darin schreibt der Medienberater und Journalist Robin Meyer-Lucht über den maroden Zustand der Zeitungsbranche, die überall mit sinkenden Reichweiten und Auflagen, immer greiseren Lesern und spärlicher werdenden Inseraten zu kämpfen hat, weil nachwachsende Generationen offensichtlich keine Lust haben, Geld für bedrucktes Papier auszugeben. Einen französischen Aufsatz zitierend, kommt Meyer-Lucht zum Schluß: "Die Presse hat im Kampf mit dem Internet ihren 'tipping point' erreicht und droht ins Bodenlose zu fallen." Die Großen im Internet - von Google über Freemail-Anbieter bis zu sozialen Portalen - nehmen der Presse nicht nur die Inserate weg, sie drücken auch noch die Preise für die Werbebanner auf den Online-Versionen der Zeitungen und Zeitschriften.

Diese Sicht der Dinge bedeutet nichts Gutes. Noch weniger Jobs, noch höhnischere Honorare für Autoren und Photographen, noch schlechtere Zeitungen, als die meisten eh schon sind. Dann kommen noch Statusberichte aus Amerika wie dieser und darin die Erkenntnis, daß außer der Weblog-Zeitung "huffingtonpost.com" kaum einer mit so etwas ähnlichem wie Journalismus online kommerzielle Erfolge erzielt. Oder die Veröffentlichung der Mediaanalyse 2007 für Österreich, die bis auf wenige Ausnahmen flächendeckend Verluste bei den Lesern ausweist, von den Betroffenen aber trotzdem zu Erfolgsmeldungen umgedeutet wird.

So entsteht dann wirklich leicht der Eindruck, die Entscheidungsträger der großen Verlage steckten die Köpfe in den Sand und warteten vorsichtshalber mit ihren Reaktionen, bis die bisherigen Strukturen hinweggefegt sind - der "tipping point", Sie erinnern sich sicher, macht sowieso alles anders, als man denkt. Und nebenbei bringt er einem auch eine kleine Identitätskrise ins Haus. Wie soll man unter diesen Umständen noch Zeitungen machen? Wie soll online so etwas wie Journalismus passieren, der Geld kostet? Und überhaupt: Was ist schon heute die Lösung für die Misere von morgen?

Vielleicht hat irgendjemand eine Idee und wäre so freundlich, sie mir mitzuteilen. Das wäre eine große Hilfe ...

Eberhard Lauth

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9. 5. 2008

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