zurück zum
INHALTSVERZEICHNIS...










ARCHILODIE
Taktphysiognomie

Ö 2000

Label/Vertrieb:
EMI

Wertung:
ø bis øøøøø ???


 

 

 
 
 
 
 

Wenn Sie glauben, daß Konzeptkunst, höhere Mathematik und Begriffe aus der Computerwissenschaft in der populären Musik nichts verloren haben, dann belehrt Sie Benny Denes in seinem neuesten Band-Porträt eines Besseren. Obwohl - wirklich ausgekannt hat er sich auch nicht...
 
 
 

Archilodie
Byte me, sucker!
 

Ansätze zur Perfektion in der Komposition von Musik gab es schon in vergangenen Jahrhunderten: die Harmonielehre, die Schönbergsche Zwölftonmusik, den Minimalismus von Kraftwerk und die ungezählten Meisterwerke der Klassiker wie Mozart, Beethoven und der italienischen Opernkomponisten. Doch wirklich perfekte Musik kann es nicht geben, da die Kulturform Musik gerade durch Kreativität und Abweichungen von einer gedachten Norm ihren Reiz gewinnt. Trotzdem ergibt der Versuch, Popmusik nach strengsten Regeln zu schaffen, durchaus Sinn.

Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals ein Band-Interview im Rechenzentrum einer Software-Firma geführt zu haben. Das ist auch kein besonders inspirierender Ort dafür, dachte ich mir, als Holger Donsbach, Frank Puchalla und Dennis Klötzow mich in Graz im "Gehirn" ihres Musikkonzepts empfingen. Die Grundlage für unser Gespräch bildete ein Paket, bestehend aus einem knapp 200seitigen Buch über ihre Idee und einer halbstündigen Hör- und Sehprobe auf DVD. "Archilodie" nennt sich ihr Projekt, und schon dieser Name bedurfte einer Erklärung. "Es handelt sich dabei um ein Neokompositum, semantisch zwischen Architektur und Melodie zu verorten", erklärte mir der in seinem hellblauen Rollkragenpullover etwas hochnäsig wirkende Puchalla.

So schlau wäre ich ja gerade selber noch gewesen - offensichtlich haben die drei Diplominformatiker versucht, Musik am Reißbrett zu gestalten. Die minimalistischen Blubbertöne auf ihrem Debütalbum verstärken diesen Eindruck. "Wir können leider nicht alles offenbaren!" entschuldigte sich Puchalla wenig später für seine geheimnisvollen Worte. Weil ich von denen aber längst genug hatte, versuchte ich, aus den beiden anderen Band-Mitgliedern etwas herauszubekommen und stellte die gängigste aller journalistischen Fragen, nämlich die, in welche Schublade sie selbst ihre Musik stecken würden. "Solche Fragen beantworten wir nicht", gab mir Holger Donsbach zu verstehen.

Sie werden sich bis jetzt vielleicht über die für ein Musik-Feature äußerst ungewöhnliche Form gewundert haben; aber mir fiel wirklich nichts anderes ein, nachdem ich nur solche und andere Antworten dieser Art bekam. Im Interview versuchte ich, nochmals auf die Inhalte der kreativen Arbeit von Archilodie einzugehen. "Im Buch zum Album sind diverse Schaltpläne für Platinen veröffentlicht und Programmbefehle aufgelistet. Was wollt Ihr damit ausdrücken?" startete ich den letzten Versuch bei Dennis. "Seien Sie uns nicht böse, aber die EMI hat nicht grundlos allen Redaktionen empfohlen, keine Musikredakteure zu den Interviews zu schicken, sondern Wissenschaftsjournalisten. Es geht hier nicht um die Vermarktung eines ganz normalen Albums einer ganz normalen neuen Band, die ganz normale neue Musik mit ganz normalen Instrumenten macht." "Sondern?", bohrte ich. "Hätten Sie ein wenig Ahnung von Computersprache, dann wüßten Sie, was auf dem Album zu hören ist."

Ich hatte genug, verabschiedete mich und fuhr zurück in die Redaktion. Als ich Buch und DVD gerade in den großen Papierkorb schmeißen wollte, erblickte ich Computerfreak Chris Haderer an seinem Schreibtisch. Ich zeigte ihm das Buch, legte die DVD ein - und seine Augen wurden immer größer. Leider blieb auch er stumm, fragte nur, ob er die Materialien haben könnte. Ich gab sie ihm, unter der Bedingung, daß er mir erklärte, was es damit auf sich hätte. "Ich gebe das dem Forschungszentrum der Fakultät Informatik an der Wiener Uni. Mir scheint, du hast nicht die wirklichen Autoren dieser Musik interviewt. Verstehst Du, das ist so eine Art genmanipulierte Musik", sprach er und machte sich davon, wobei er noch irgendetwas von Künstlicher Intelligenz, einem Quantensprung und Börsenanteilen flüsterte.

Das Buch und die DVD werden nicht in den Handel gelangen, dafür ein scheinbar ganz normales und nicht überragendes Debütalbum einer Band aus Graz, die minimalistische Elektronikmusik mit periodisch aufflammendem Genius aufgenommen hat. Was es genau mit der Entstehung der sieben äußerst langen Tracks auf sich hat, wollte auch die Promoterin ihrer Plattenfirma nicht preisgeben. Ich sehne mich nach dem nächsten ganz normalen Interview, voller Klischees, Drugs und Rock´n´Roll...
 
 


ALBUM-REVIEW

"Pieps, Dumdumm, Pieps, Pieps, Dumdudumm, Th th th th - th", so hört sich der Refrain der ersten Single-Auskopplung vom Debütalbum der drei Computerspezialisten aus der Steiermark an. Warum der Track "Transzendenz des Wohlwollens" heißt, werden wohl nur Studenten der Fächerkombination Philosophie und Informatik beantworten können. Überhaupt scheinen mir diese die Kernzielgruppe eines Albums zu sein, das man eigentlich nicht verstehen kann, selbst wenn man den Chaos-Präzisions-Crossover, wie etwa bei Aphex Twin, Neurosis oder Refused, einmal schätzen gelernt hat. An diesem Album muß etwas Besonderes sein, etwas Spezielles, das es nicht über das Projektstadium hinaus geschafft hat. Wenn man die Indizien betrachtet, könnte man zu dem Schluß gelangen, daß die "Musik" auf "Taktphysiognomie" vollständig von einem Computer erdacht, komponiert und arrangiert wurde. Gespielt wird sie, das hört man ganz eindeutig, ohnehin nur von Computern.
  

Benny Denes