Games_Classic Games: Vanquish

Die Mecha-Russen kommen

Anders als viele Entwickler der aktuellen Spielebranche sind die kreativen Köpfe des japanischen Studios Platinum Games an Realismus nicht interessiert. Die Titel aus dieser Spieleschmiede überzeugen weder mit authentischen Charakteren noch mit lebensechter Darstellung. Der Fokus liegt vielmehr auf kreativem Design, Originalität und brachialer Reizüberflutung. Daß das funktionieren kann, zeigt das 2010 erschienene "Vanquish" - in der neuen EVOLVER-Reihe "Classic Games".    11.02.2013

Glaubt man der Geschichte von "Vanquish", sieht es für die Menschheit nicht gerade rosig aus: Gegen Ende des 20. Jahrhunderts erreicht die Überbevölkerung der Erde einen kritischen Punkt, die Rohstoffe reichen nicht mehr aus, und es kommt zu furchtbaren Hungersnöten überall auf der Welt. Am schlimmsten hat es Rußland erwischt. Dort wird die geschwächte Regierung durch einen Putsch gestürzt, der "Orden des Roten Sterns" kommt an die Macht. Dieser erobert in weiterer Folge eine gigantische amerikanische Raumkolonie im Orbit und nutzt ihre geballte Solarenergie als eine Art Laser, um San Francisco dem Erdboden gleichzumachen und somit den USA den Krieg zu erklären.

Als letztes Aufgebot schicken die Amerikaner eine Spezialeinheit US Marines in die Raumstation, um sie zurückzuerobern und so die Zerstörung weiterer Städte zu verhindern. Der Spieler schlüpft in die Rolle von Sam Gideon, einem Mitarbeiter von DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), der das Team als Unterstützung begleitet. Sam ist mit dem "Advanced Reaction Suit" ausgestattet, einer Art Exoskelett, das ihm waghalsige akrobatische Manöver ermöglicht, seine Reflexe und körperlichen Fähigkeiten verbessert und ihn dank eingebauter Düsen in hoher Geschwindigkeit über des Schlachtfeld fegen läßt.

Die Story ist eindeutig nicht die größte Stärke des Spiels. Die gesamte Präsentation der Erzählung wirkt ein wenig wie ein bunter Haufen amerikanischer Stereotypen im klassisch japanischen Stil. Da gibt es Sam Gideon, den Action-Helden der alten Schule: er hat stets einen lockeren Spruch auf den Lippen, riskiert immer wieder Kopf und Kragen und entkommt anschließend um Haaresbreite der gewaltigen Explosion. Dann wäre da noch der Kriegsveteran, der stur seine Befehle befolgt und als wahrer Soldat zu jedem Opfer bereit ist, um seine Mission abzuschließen. Nicht zu vergessen: der Bösewicht mit dem schweren russischen Akzent. Die Charakter wirken durch die Bank seicht und auswechselbar. In Kombination mit der verwirrenden Handlung verleiht das dem Spiel einen gewissen trashigen Charme, der aber sicher nicht jedermanns Sache ist.

 In Sachen Gameplay allerdings zeigt der Titel, was er kann. Grundsätzlich besteht die Hauptaufgabe des Spielers darin, sich durch Horden feindlicher Roboter zu schießen. Das wäre an sich nichts Besonderes, doch hier kommt der AR-Suit ins Spiel. Sam ist in der Lage, sich rasend schnell durch die Levels zu bewegen, um beispielsweise Feinde zu flankieren oder Projektilen auszuweichen und währenddessen in Zeitlupe seine Gegner aufs Korn zu nehmen. Danach eine geschickte Rolle seitwärts, in die Hocke, Zeitlupe reaktivieren und weitere Widersacher ausschalten. Durch die hohe Anzahl solcher Manöver und die dadurch stets variierende Spielgeschwindigkeit entsteht eine hohe Dynamik, die dem Spieler sehr viel abverlangt. Unfaßbar viele Dinge passieren gleichzeitig - da den Überblick nicht zu verlieren, erfordert schon ein hohes Maß an Konzentration.

So etwas ist ohne ein gutes Steuerungsgefühl natürlich nicht zu schaffen, und auf diesem Gebiet haben Platinum Games wirklich hervorragende Arbeit geleistet. Man hat das Gefühl, jede einzelne Bewegung der Spielfigur beeinflussen zu können, und bekommt so immer mehr Übung im Umgang mit dem AR-Suit. Während der ersten Levels fühlt man sich mit den vielen Möglichkeiten etwas überfordert und schlittert daher sehr oft in den digitalen Tod. Nach einiger Einarbeitungszeit beginnt der Spieler allerdings, mit der Steuerung vertraut zu werden, und legt so immer anmutigere Manöver aufs Parkett. Das Spiel erzeugt tatsächlich das Gefühl, mit jedem besiegten Gegner und jeder bestandenen Herausforderung ein wenig besser und geschickter zu werden.

 

Und das ist auch bitter nötig: "Vanquish" ist nämlich alles andere als einfach. Für das Spiel benötigt man rasche Reflexe und die Fähigkeit, eine Situation schnell einzuschätzen und taktisch klug darauf zu reagieren. Der Feind ist hier zwar nicht besonders clever, aber zahl- und variantenreich: Wenn man gleichzeitig von Robotersoldaten umzingelt und von Scharfschützen ins Visier genommen wird, bleibt nicht viel Zeit für strategische Überlegungen. Die Speicherpunkte sind fair gesetzt - dennoch kommt Frust auf, wenn man nach einem fünfminütigen Massaker kurz vor dem Ende noch von einem übersehenen Schützen erwischt wird und die gesamte Passage wiederholen muß. Umso größer ist die Freude, sobald endlich der letzte Gegner gefallen ist.

Wer sich auf das Game einlassen will, sollte unbedingt ein hohes Maß an Frustresistenz mitbringen, weil der Controller sonst spätestens im vierten Akt in der Ecke landet. Speziell die Boßgegner, die es nach jedem Level zu bezwingen gilt, stellen eine große Herausforderung für die Nerven des Spielers dar und sind ohne die richtige Taktik nicht zu bezwingen. Fast wird man an die Ära der 2D-Jump´n´Runs erinnert, in der jeder einzelne Gegner eine eigene Taktik verlangte und das Bezwingen eines Spiels sich noch wie eine richtige Leistung anfühlte.

"Vanquish" ist ein ungewöhnliches Spiel. Sein optischer Stil ist mit den skurrilen Mecha-Designs und überzeichneten Charakteren mehr als gewöhnungsbedürftig, und wer sich gern in durchdachten und liebevoll erzählten Geschichten verliert, wie sie in Rollenspielen vorkommen, sollte um diesen Titel einen großen Bogen machen. Fans brachialer Action, bleihaltiger Luft und hoher Geschwindigkeit im Gameplay können aber bedenkenlos zugreifen: Selten wurde das Gefühl, eine Ein-Mann-Armee zu sein, so gut herübergebracht wie hier. "Vanquish" ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als der spielgewordene Kindheitstraum jedes Fans völlig überdrehter Action-Filme.

Philipp Grüll

Vanquish

ØØØ 1/2

Leserbewertung: (bewerten)

(Platinum Games)

 

Erhätlich für: PS3, Xbox 360

Links:

Kommentare_

Games
Alien: Isolation

Nervenkrieg der Welten

1979 kam Ridley Scotts "Alien" in die Kinos und zeigte uns Erdenbewohnern die kleinen grünen Männchen von ihrer düsteren Seite. Bislang konnte keine Videospielumsetzung das Flair dieses Meisterwerks adäquat herüberbringen. Doch jetzt haben Creative Assembly mit "Alien: Isolation" ihr eigenes Monster auf uns losgelassen.  

Games
Watch_Dogs

Grand Theft Data

An jeder Ecke hängen Kameras, die Passanten filmen; unsere Smartphones geben alle Daten und Bewegungsprofile an Herstellerfirmen weiter; die NSA überwacht unsere Gespräche, Mails und Kurznachrichten. Wer das Überwachungssystem kontrolliert, kontrolliert die Welt ... und in diesem Game auch seine Mitmenschen.  

Games
Castlevania: Lords of Shadow 2

Die Passion des Gabriel Belmont

Seit 27 Jahren erzählt die "Castlevania"-Reihe die Geschichte des Belmont-Clans, einer Familie von Vampirjägern, und seines Kampfes gegen die Mächte des Bösen. Mit "Lords of Shadow" feierte die Serie 2010 ihren Next-Gen-Einstand. Jetzt liegt das Sequel vor.  

Games
Outlast

Flieht, ihr Narren!

Schleichen. Verstecken. Weglaufen. Spätestens seit "Amnesia: The Dark Descent" ist diese Formel für Survival-Horror-Games salonfähig. "Outlast", das Erstlingswerk des Indie-Studios Red Barrels, funktioniert nach diesem Konzept. Und macht dabei fast alles richtig.  

Games
Battlefield 4

Ab in die Schlacht!

Eine der renommiertesten Shooter-Serien feiert mit "Battlefield 4" ihren Einstand auf den aktuellen Next-Gen-Konsolen. Philipp Grüll war mit Herz und Seele beim digitalen Gemetzel dabei.  

Games
Classic Games: Homeworld

Back to the Roots

Das Genre der Weltraumspiele galt lange Zeit als tot. Die Community verlagerte ihr Interesse und ihre Kaufkraft auf realistischere Szenarien, und große Serien wie "Wing Commander" oder "Masters of Orion" gerieten in Vergessenheit. Doch in letzter Zeit gibt es durch "X: Rebirth", "EVE Online" sowie das Megaprojekt "Star Citizen" Anzeichen für eine Renaissance des Genres. Ein guter Zeitpunkt, um sich eines SF-Schwergewichts aus dem Jahre 1999 zu erinnern.