Kino_Der fremde Sohn

Edgar läßt grüßen

In seinem erschütternden Drama beweist Clint Eastwood, daß er sein Handwerk beherrscht - auch wenn die Handlung angesichts der Vielfalt der Themen stark überladen wirkt.    21.01.2009

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis berüchtigte Mordfälle der Vergangenheit Thema eines Films werden. Schließlich geben sie die perfekte Grundlage für unterhaltsame Geschichten ab: sie sind grausam und ekelerregend, furchteinflößend, aber spannend - und stellt man es richtig an, drücken sie sogar auf die Tränendrüse. Das hängt natürlich auch davon ab, ob der Mörder selbst, die Jagd nach ihm, die Ermittlungen oder die Opfer im Mittelpunkt stehen.

Nun sind auch die als "Wineville Chicken Murders" bekannten Verbrechen, die Ende der 20er Jahre in der Nähe von Los Angeles stattgefunden haben, zum Leinwandthema geworden. Regisseur Clint Eastwood wählte allerdings einen etwas anderen Zugang. In seinem Drama "Changeling" konzentriert er sich nicht auf die Mordfälle, sondern erzählt vom Kampf einer Mutter gegen die Allmacht der Exekutive.

Eines Abends ist Christine Collins´ (Angelina Jolie) neunjähriger Sohn plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Nach fünf langen und nervenaufreibenden Monaten taucht die Polizei auf und erklärt, Walter sei unversehrt aufgefunden worden. Doch das Kind, das Christine gegenübergestellt wird, ist nicht ihr Sohn. Glauben will ihr das die Polizei auf keinen Fall; das Police Departement kann unmöglich einen Fehler zugeben. Captain J. J. Jones (Jeffrey Donovan) sorgt dafür, daß Frau und Kind lächelnd photographiert werden, und schickt die beiden nach Hause. Doch Christine findet schon bald eindeutige Beweise, daß der Bub, der sich auch selbst als Walter Collins ausgibt, nicht ihr richtiger Sohn ist. Trotzdem will ihr die korrupte Polizei - die damit beschäftigt ist, ihr Image aufzupolieren - auf keinen Fall Glauben schenken. Einzig Reverend Gustav Briegleb (John Malkovich), der Tag für Tag auf die polizeilichen Mißstände hinweist und nach Wahrheit sucht, nimmt sich Christines Problem an. Es beginnt ein zäher Kampf gegen Macht und Korruption in einer frauenfeindlichen, menschenverachtenden Umgebung.

 

Neben den Auseinandersetzungen einer alleinstehenden Frau mit dem System befaßt sich die Story auch noch mit einigen anderen Themen. Einerseits geht es um einen berüchtigten Mordfall, andererseits werden Korruption und Kriminalität der 20er Jahre in Los Angeles aufgezeigt. Die Ohnmacht des Individuums gegenüber einer scheinheiligen Gesellschaft steht ebenso im Mittelpunkt wie die Furcht des einzelnen, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren.

Während nun eine mit bedeutsamen Sujets aufgeladene Handlung im Vordergrund abläuft, ist auch die Hintergrund-Story mit so einigem gespickt, das Mensch und Gesellschaft für wichtig erachten. Eastwood läßt nichts aus: Feminismus und Familie, die Liebe zwischen Mutter und Kind, das korrupte System, Macht in den Händen der Falschen, Verbrechen und Justiz, Schmerz und Hoffnung, Religion, Todesstrafe und Serienmord. In nur einen Film verpackt er fast das ganze Spektrum gesellschaftlicher Themenstellungen - und macht seine Sache eigentlich gut. Authentisch wie selten wird das Los Angeles der 20er und 30er Jahre dargestellt, die Kostüme sind gelungen, das Drehbuch ist stimmig, die Story gut recherchiert. Doch angesichts der Fülle an Ereignissen und aufgezeigten Problemen verliert man sich früher oder später in der Überladenheit des Films.

Hinzu kommt der erschütternde Gedanke, daß die gezeigten Begebenheiten damals wirklich so passiert sind. Nicht nur die Verbrechen - die aus einer Erzählung Edgar Allan Poes stammen könnten, aber angesichts ihrer Realität mehr als nur furchtbar anmuten -, sondern auch die gesamte, präzise recherchierte Geschichte werden in aller Ausführlichkeit wiedergegeben. Sowohl die Charaktere als auch die Geschehnisse sind authentisch, es wurde kaum etwas daran verändert. Einzig für die filmische Darstellung, die zwangsläufig zu Bestürzung und Fassungslosigkeit führt, sind die Macher verantwortlich.

Das Ergebnis ist ein gewaltiges Kinospektakel, das ein breites Gefühlsspektrum im Zuschauer zu wecken vermag und keine Sekunde langweilig wird. Angesichts der 141 Minuten Spielzeit und der überladenen Story ist das zwar verwunderlich, zeigt aber auch, daß Clint Eastwood sein Handwerk beherrscht. Es wird also kaum überraschen, wenn sein Werk bei der Oscar-Verleihung nicht zu kurz kommt. Letztlich ist es auch Angelina Jolie, die mit vielen starken Momenten aufwartet, auch wenn sie nicht in jeder Szene zu überzeugen weiß. John Malkovich hingegen ist wie gewohnt das Tüpfelchen auf dem i des schauspielerischen Könnens.

Christa Minkin

Der fremde Sohn

ØØØ 1/2

(Changeling)

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USA 2008

141 Min.

Regie: Clint Eastwood

Darsteller: Angelina Jolie, John Malkovich, Jeffrey Donovan u. a.

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