Kino_Die Zeit, die bleibt

Jeder stirbt für sich alleine

Sehnsüchtig erwartet und mit Vorschußlorbeeren überhäuft: Frankreichs Regiestar Francois Ozon setzt seine Trilogie über das Sterben fort.    03.05.2006

Irgendwie ist es bezeichnend, wenn man als Zuschauer unmittelbar nach Ansicht von Francois Ozons neuem Film zunächst über die Doppeldeutigkeit des Titels nachdenkt, anstatt mit Haut und Haar das Gesehene rekapitulieren zu wollen. Das Verb "bleiben" besitzt, genauso wie sein französisches Pendant "rester" im Originaltitel "Le Temps qui reste", eine gewisse Ambivalenz. Wenn wir die Geschichte eines jungen Mannes erzählt bekommen, der erfährt, daß er nur noch wenige Monate zu leben hat, dann kann diese Zeit, die "bleibt", zweierlei bedeuten: Zum einen steht sie für die wenigen kostbaren Momente, die dieser Mann noch erleben darf. Gleichzeitig kann auch eine ganz andere Zeit gemeint sein, nämlich die, die in einem selbst und in den anderen zurückbleibt. Das mögen Erinnerungen an die Kindheit, an die Pubertät, das Elternhaus oder an enge Freunde sein und vice versa Erinnerungen all jener Menschen an den Betroffenen, der erfahren hat, daß er schon mit Anfang 30 sterben muß.

Romain (Melvil Poupaud) heißt der Protagonist bei Ozon. Er ist Modephotograph, arrogant, nicht besonders liebenswert, ein Hedonist, kokssüchtig und einsam. Als ihn die Diagnose "Krebs im Endstadium" erreicht, beschließt er, nicht kämpfen zu wollen, weil die Aussichten auf eine Heilung einfach zu gering sind. Zunächst gibt er sich cool und gelassen, doch als er dann alleine im Park sitzt und in die scheinbar sorglosen Gesichter seiner Mitmenschen blickt, zerfällt der Schock in Trauer und Wut. Er bringt es nicht fertig, seinem Freund Sasha (Christian Sengewald) oder seinen Eltern die Diagnose zu übermitteln. Nur seiner Großmutter (Jeanne Moreau) vertraut er sich an. Bei ihr darf er endlich einmal schwach und egoistisch sein, so wie er wirklich ist. Hinter der gestylten Fassade steckt immer noch der kleine Romain, der sich das Glück seiner Kindheit zurückwünscht. Wie es der Zufall so will, trifft Romain auf einer Autobahnraststätte eine Kellnerin (Valeria Bruni-Tedeschi), die ihm ein ungewöhnliches Angebot machen soll.

 

Mit "Die Zeit, die bleibt" setzt Regie-Wunderkind Ozon nach "Unter dem Sand" seine Trilogie über das Sterben fort. Kennzeichnend ist sein leicht distanzierter Blick auf die Dinge, der schon das Ehe-Drama "5x2" durchzog. Filme über den Tod - besonders dann, wenn sich ein Mensch mit diesem konfrontiert sieht, der noch nicht einmal die Hälfte seines Lebens gelebt hat - driften mitunter schnell in manipulierende Melodramatik und religiös eingefärbten Kitsch ab. Unter beiden litt zuletzt Isabel Coixets "Mein Leben ohne mich".

Bei Ozon ist das anders. So wie Romain die Welt per Kameraobjektiv immer auf Distanz zu sich hielt, bleibt auch der Regisseur stets auf einem vordefinierten Abstand zu seinem Protagonisten. Das schließt nicht aus, daß einige Szenen sehr intim wirken. Eher aus Respekt und vielleicht auch aus Angst, womöglich doch in die Sentimentalitätsfalle zu tappen, wählt Ozon diesen Blickwinkel.

Wieder einmal arbeitet der Regisseur bei der Bildästhetik mit unterschiedlichen Schärfen und Perspektiven. Entweder wir sehen nur Romain im Hintergrund, wie er eine Szenerie beobachtet, oder wir sehen ihn unscharf, verschwommen, während sich die Kamera auf die Ereignisse im Vordergrund fokussiert. Das schafft eine Anspannung, die mit Worten nicht zu erzeugen wäre.

Es ist Romains Einsamkeit, die bewegt. So wie er während eines Großteils seines Lebens alleine war, so allein ist er auch auf diesem letzten Weg. Die einzige, die dies erkennt, ist seine Großmutter. Als Konsequenz erlaubt er sich, ehrlich zu sein, gegenüber seinem Freund, gegenüber seiner Familie, mit der bitteren Ironie, daß er gerade die Nachricht von seiner Krankheit für sich behält.

Der Strand als Ausgangs- und Endpunkt der Story findet sich auch in diesem Ozon-Film wieder. Für ihn symbolisiert dieser Schauplatz auch den Anfang und das Ende unseres Seins. Die Bilder der Schlußeinstellung üben dabei eine Faszination aus, die fast schon suggestiv unsere Sehnsüchte abarbeitet. Zusammen mit der Szene im Park, in der Romain mit seiner entfremdeten Schwester telefoniert, sind sie die emotionalen Höhepunkte in einem ansonsten kühl und unsentimental konzipierten Werk.

Dies stellt keine Kritik dar, sondern soll vielmehr ausdrücken, was sich der Zuschauer von "Die Zeit, die bleibt" möglichst nicht erwarten darf. Dafür gibt es schließlich die Dramen von Stephen King. Interessant ist, was mit den Photos geschieht, die Romain gemacht hat: Wenn diese seine Familie erreichen werden, wird er bereits tot sein. Sie sind sein Vermächtnis.

 

Der bislang eher unbekannte Mevil Poupaud und die Grande Dame der Nouvelle Vague, Jeanne Moreau, liefern Darstellerleistungen ab, die jeden Film veredeln würden. Poupaud muß den schauspielerischen Drahtseilakt zwischen einer im Einsturz befindlichen Selbstschutzfassade und der knallharten Konfrontation mit den Realitäten überstehen, was ihm eindrucksvoll gelingt. In dem schönen modelltypischen Gesicht bricht immer wieder die reine Angst vor dem Sterben und die Enttäuschung über ein über weite Strecken unglückliches Leben hervor. Von Jeanne Moreau hätte man gerne mehr gesehen. Ihre Leinwandpräsenz beschränkt sich auf wenige Minuten, die dafür die Atmosphäre einer lange zurückliegenden großen Kino-Ära atmen.

Wie eingangs bereits angedeutet, liegt die Qualität von Ozons Film darin, daß wir anhand einer Chronik der letzten Wochen im Leben eines nicht unbedingt sympathisch gezeichneten Charakters über uns selbst zu reflektieren beginnen. Wie würde sich jeder von uns in dieser Ausnahmesituation verhalten? Würden wir die Nachricht auch für uns behalten? Ozons Credo zum "carpe diem" ist ein Film zum Nachdenken geworden - und weniger zum Nachempfinden.

Marcus Wessel

Die Zeit, die bleibt

ØØØ 1/2

(Le temps qui reste)


Frankreich 2005

86 Min.

Regie: François Ozon

Darsteller: Melvil Poupaud, Jeanne Moreau, Valeria Bruni-Tedeschi u. a.

 

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