Kino_Micmacs - Uns gehört Paris!

Basil und die Waffenhändler

In seinem neuen und wieder rein französischen Film erzählt Regisseur Jean-Pierre Jeunet ein modernes Märchen über das Leben, die Waffenlobby und den ganzen Rest.    10.10.2010

Wenn der Name Jean-Pierre Jeunet im Vorspann eines Films aufscheint, dann ist sicher, daß man sich in ein paar Minuten nicht mehr in Kansas befinden wird. Mit dem realen Universum haben die komponierten Bildwelten des Regisseurs, der die Verfilmung des Bestsellers "Harry Potter und der Orden des Phönix" (2007) ablehnte und stattdessen die skurrile Komödie "Micmacs - Uns gehört Paris!" drehte, nur am Rande zu tun. Die kleine Dorothy ist in diesem Fall ein kleiner Junge namens Basil. Beim Versuch, eine Tretmine zu entschärfen, verliert Basils Vater in Algerien das Leben, Basils Mutter daraufhin den Verstand und Basil selbst die Familie. 30 Jahre später arbeitet er in einer Videothek in Paris - und während er gerade Humphrey Bogart imitiert, ereignet sich vor dem Geschäft eine Schießerei. Basil bekommt eine verirrte Kugel in den Kopf, fällt um, und über den Fernseher läuft der Abspann von "Tote schlafen fest." Basils eigentliche Geschichte beginnt mit den Worten THE END. Auf der Straße, mit einer Kugel im Kopf, die sich nicht entfernen lassen will, und in einem Paris, das in seiner freundlichen Verklärtheit gar nicht von dieser Welt sein kann.

 

Basil (dargestellt vom französischen Star-Komiker und Feuilletonliebling Dany Boon) stolpert von einer Alltagsminiatur zur nächsten und hat am Ende einer Reihe von Zufällen mit einer schrulligen Außenseitertruppe, die unter der Mülldeponie lebt, nicht nur eine neue Familie gefunden, sondern auch die beiden Rüstungsfirmen ausfindig gemacht, die seinen Vater und seinen Kopf auf dem Gewissen haben. Mit seinen neuen Freunden, von denen jeder eine von Jeunet liebevoll porträtierte Eigen- und Besonderheit hat, tüftelt Basil einen Racheplan aus, der die Chefs der Rüstungsunternehmen gegeneinander ausspielen soll. Daß der Film trotz des gewalttätigen Themas ohne plakative Gewalt auskommt, paßt zur Handschrift des französischen Regisseurs, der mit Filmen wie "Die Stadt der verlorenen Kinder" ("La Cité des enfants perdus", 1995), "Alien - Die Wiedergeburt" ("Alien: Resurrection", 1997) und "Die wunderbare Welt der Amélie" ("Le Fabuleux destin d’Amélie Poulain", 2004) konsequent an seinem Kultstatus gebastelt hat.

 

Statt Faustschlägen gibt es einen absurden Plan nach dem anderen - was schließlich in einem fast genialen Showdown mündet. Die Demaskierung der Waffenlobby am Ende ist sowohl eine liebevoll-ironische Verbeugung als auch schon wieder ein Kurzfilm für sich. Auch wenn Basils Paris nicht so bunt ist wie das von Amélie - "Micmacs" lebt von den bis ins kleinste Detail komponierten Bildern, die eine Geschichte neben der Handlung erzählen. Die Protagonisten, vom etwas schlichten Basil über die biegsame La Môme Caoutchouc (Julie Ferrier) und Petit Pierre (Michel Crémadés), der aus Schrott roboterähnliche Maschinen baut, bis hin zur menschlichen Kanonenkugel Fracasse (Jeunet-Lieblingsdarsteller Dominique Pinon) sind keine Charaktere, sondern Archetypen. Wie die zusammengewürfelte Truppe - Vogelscheuche, Zinnmann und Löwe - im "Zauberhaften Land von Oz" ("The Wizard of Oz", 1939) sind auch sie vor allem durch das Herz verbunden. Durch diese Unschuld funktioniert der Film, und trotz der menschlichen Tragödien, die Jeunet dem Zuschauer auftischt, wird man ein Schmunzeln nicht los. Eine harsche Kritik an der Waffenlobby ist "Micmacs" nicht, eher schon ein modernes Märchen, erzählt im Stil der Prä-Video-Generation.

Das macht den Streifen sehr sympathisch und das französische Kino etwas abenteuerlicher.

 

              

Chris Haderer

Micmacs - Uns gehört Paris!

ØØØØ

Micmacs à tire-larigot

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F 2009
105 Min.

 

Regie: Jean-Pierre Jeunet

Darsteller: Dany Boon, André Dussollier, Nicolas Marié u. a.

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