Kino_Mord im Orient-Express (2017)

Tatort Hollywood

Neun Monate hat sich Kenneth Branagh auf die Rolle des Hercule Poirot vorbereitet. Doch seine Neuverfilmung des Agatha-Christie-Krimiklassikers kommt trotz des prächtigen - und von Fans verschmähten - Schnurrbarts, neuer technischer Möglichkeiten und einer von Stars nur so überkochenden Besetzung nicht an die früheren Kinoversionen der Vorlage heran.    14.12.2017

Wer die Romane von Agatha Christie gelesen hat oder aufmerksam durch das Nachmittagsprogramm deutscher Regionalsender zappt, kennt die Verfilmungen ihrer Krimis zumindest vom Titel her – "Mord im Orient-Expreß", "Tod auf dem Nil" und "Das Böse unter der Sonne". Obwohl die letzten Werke der Queen of Crime in den späten 1970ern erschienen sind, erfreuen sich gerade die Ermittlungen von Hercule Poirot und Miss Marple noch immer großer Beliebtheit. Zu Recht - die feinen, gut durchdachten Handlungsstränge dieser klassischen Whodunit-Geschichten findet man in zeitgenössischen Krimis selten.

Im Remake von "Mord im Orient-Express" hat sich Regisseur Kenneth Branagh, der sich vor allem mit seinen Shakespeare-Verfilmungen einen Namen gemacht hat, praktischerweise auch gleich selbst als Hauptdarsteller verpflichtet. Neben ihm verspricht auch die restliche Besetzung schauspielerische Großleistungen: Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, Willem Dafoe, Penelopé Cruz und allen voran Judi Dench (eine Schauspielerin, die laut Kritikern sowieso nichts verkehrt machen kann, was bei ihren wenigen Minuten auf der Leinwand aber auch nicht allzu schwierig ist).

 

Die wohl bekanntesten Darsteller Hercule Poirots sind Sir Peter Ustinov, Albert Finney - dem seine Rolle in "Mord im Orient-Expreß" 1974 eine Oscar-Nominierung einbrachte - und David Suchet, der die Rolle des belgischen Detektivs in der 70teiligen BBC-Serie von 1989 bis 2013 verkörperte. Suchet hielt sich bei seiner Darstellung am ehesten an Christies Original und prägte das Bild des eitlen und dandyhaften Ermittlers mit dem eiförmigen Kopf, den blankpolierten Schnürschuhen und dem stets akkurat gepflegten Schnurrbart. Die Auflösung der Fälle in 33 Romanen und unzähligen Kurzgeschichten findet der Detektiv immer mit Hilfe seiner "kleinen grauen Zellen". Dem Leser werden Fakten und Zusammenhänge häppchenweise vorgesetzt, man tappt jedoch bis zum grande finale im Dunkeln. Doch gerade in diesem bequemen Tempo - Logik und Kombinieren statt Action - liegen Charme und Stärke der Romane und älteren Verfilmungen.

Remakes von weltbekannten Klassikern stehen stets vor der Problematik, den schmalen Grat zwischen Modernisierung und Kopie, zwischen Action und Tempo, zwischen aktueller Hollywood-Ästhetik und einer Gemächlichkeit, die der moderne Zuschauer zu oft mit Langeweile gleichsetzt, beschreiten zu müssen. Sie sollen Fans des Originals dazu bringen, sich auch die neue Fassung anzusehen, und junge Zuschauer ermutigen, die wahrscheinlich nachfolgenden unzähligen Sequels zu besuchen und fleißig in Merchandise zu investieren (man denke nur an den neuen "Star Wars"-Irrsinn ...).

Branagh versucht sich an einer Kopie des Klassikers mit modernem Touch - und scheitert daran. Anstatt sich auf die Charaktere, die Nostalgie oder die Handlung zu fokussieren, scheint es, als wären die gesamte Energie und der größte Teil des Budgets in beinahe lächerlich wirkende Computeranimationen investiert worden. Hinsichtlich moderner Ansätze gibt es für den Zeitgeist einen Lichtblick: Colonel Arbuthnot, der im Original in Indien stationiert ist, ist in der Neuverfilmung ein afroamerikanischer Arzt, was einen durchaus interessanten Aspekt einbringt. Die dadurch entstehenden Rassismusdebatten unter den Charakteren sind jedoch in wenigen Sätzen abgehandelt.

 

Dabei bietet allein Poirots Charakter genug Eigenheiten und Facetten, die entweder genützt oder zu Modernisierungszwecken auch hinterfragt werden könnten. Stattdessen liefert Branagh als Schauspieler sowie als Regisseur einen Poirot, der für alteingesessene Fans zwar ein belgischer Detektiv mit großem Schnurrbart, aber auch nicht viel mehr ist. Wo die älteren Verfilmungen nur minimal von der Buchvorlage abweichen, tritt die 2017er-Version des großen Detektivs mit ihren sauberen Schuhen in Kuhscheiße, nur um den Haufen daraufhin symmetrisch zu machen, und mißt Höhe sowie Durchmesser ihrer Frühstückseier. Agatha Christies Poirot ist ein eitler, in die Jahre gekommener Dandy, der jedoch nichts von dem Neurotiker hat, den ihm Branagh aufzwingen will. Damit nicht genug, wird ihm auch noch der Hollywood-Romantikstempel aufgedrückt, als er im Remake mehrmals ein Schwarzweißphoto mit "ma chère Catherine" anschmachtet. Und die kommt - soviel sei verraten - in keiner einzigen Romanvorlage vor.

Wo die älteren Poirot-Filme auf sich langsam aufbauende Spannung zählen, versucht Branagh krampfhaft, Tempo in den Film zu bringen, das dann aber trotzdem nicht so ganz aufkommen will. Eine Verfolgungsjagd auf dem verschneiten Dach des titelgebenden Zugs, eine Lawine, die donnernd von der Bergspitze auf die Schienen zurollt, eine Schießerei im Zuge der Ermittlungen - solche Szenen wirken ebenso aufgebauscht und aufgesetzt wie die einzelnen Charaktere.

Branagh schafft mit seiner Fassung von "Mord im Orient-Express" nicht den Spagat zwischen neuen, modernen Elementen und der Originalversion, um neue und alte Fans gleichermaßen zu begeistern. Stattdessen verläßt er sich - etwas zu sehr - auf sein eigenes schauspielerisches Können und sein Star-Ensemble. Dafür handeln die Charaktere so verzerrt und überzogen, daß man sich als Kinobesucher kaum auf die Handlung konzentrieren kann. In einer Szene schnüffelt Johnny Depp als Ratchett wie ein von Tollwut befallener Hund an Michelle Pfeiffer - was wohl seinen verdorbenen Charakter herausstreichen soll, aber allenfalls ungewollt komisch wirkt. Dem Publikum scheint es trotzdem zu gefallen, wie die mehr als 246 Millionen Dollar Einspielergebnis (Stand 10. 12. 2017) belegen. Fortsetzungen sind nicht auszuschließen; bereits am Ende des Films kommt der Hinweis auf eine Neuverfilmung des anderen großen Christie-Klassikers "Tod auf dem Nil".

Wer die älteren Verfilmungen mit Ustinov oder Suchet nicht gesehen oder noch nie ein Buch von Agatha Christie aufgeschlagen hat, wird sich zwei Stunden lang kurzweilig unterhalten fühlen. Ist man hingegen als Fan der Materie neugierig, dann sollte sich man das Geld für die Kinokarte lieber sparen. Sonst fragt man sich den ganzen Film über, wie man mit dieser Vorlage und diesem Budget trotzdem so viel falsch machen kann ...

 

Saskia Draxler

Mord im Orient-Express

ØØØ

(Murder on the Orient Express)

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USA 2017

114 Min.

 

Regie: Kenneth Branagh

Darsteller: Daisy Ridley, Johnny Depp, Judi Dench u. a.

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