Kino_Viennale 2012/Journal I

Perspektiven-Rausch

Bleibende Eindrücke der ersten Viennale-Tage: Die akribische Doku "Room 237" zerlegt "The Shining" in alle Einzelbilder, die große Matthew-McConaughey-Schau "Killer Joe" dafür Hendln in mundgerechte Portionen.    30.10.2012

Daß Filme mitunter die individuelle Sichtweise auf Dinge und Gegenstände des alltäglichen Lebens nachhaltig verändern, ja nachgerade auf den Kopf stellen können, dürfte kaum als ganz neue Erkenntnis durchgehen. Stichwort: Duschvorhang.

Dennoch ereilt einen dieser Gedanke dann und wann von neuem - zum Start der diesjährigen Viennale, es ist im übrigen deren 50. Ausgabe, sogar gleich doppelt. Nachdem man beispielsweise die Vorführung von Room 237 verlassen hat, ist es gut möglich, daß man sich vielleicht nie wieder unbeschadet Teppichmuster ansehen kann. Aber nicht nur die Deutungen der (sich tatsächlich ändernden) Bodentextilien in Stanley Kubricks Horrorklassiker "The Shining" steht im Mittelpunkt dieser hinreißenden Dokumentation, sondern die Interpretation jedes noch so nebensächlich erscheinenden Details, das da während des Zweistunden-Aufenthalts im Overlook Hotel zu sehen ist.

Da werden von fünf - man muß sie so nennen - "Shining"-Besessenen Schreibmaschinen, Backpulverdosen, Gemälde, Pullovermotive, Wandfarben und Grundrisse manisch aus allen erdenklichen Perspektiven analysiert und in teils amüsante, teils absurde, teils allerdings auch sehr plausible Thesen gegossen. So lassen sich aus Kubricks Film etwa (Verschwörungs-)Theorien zu Themen wie dem Holocaust, dem verdrängten Massenmord an den Indianern oder der von Kubrick dereinst angeblich inszenierten Fake-Mondlandung ableiten - die sich (welch Wunder!) noch dazu nicht einmal zwangsläufig widersprechen müssen.

Was sich in der Zusammenfassung vielleicht nach sprödem Akademikerdiskurs anhören mag, ist in den fähigen Händen des Filmemachers Rodney Ascher zu einer erstaunlich unterhaltsamen Assemblage von Ideen und Images geraten, zu einem Hohelied auf gelebte und vor allem ausgelebte Kinoleidenschaft, womöglich sogar zu einem der aktuell faszinierendsten Filme übers Filmeschauen an sich. Nur den Perser am Wohnzimmerboden wird man sich nachher eben eventuell nicht mehr mit den selben Augen ansehen können.

 

Die Teppichmuster von Killer Joe sind frittierte Hendlhaxn. Ganz egal, wie gern man sich selbige auch ab und an einverleiben mag - nach diesem Film wird es nie wieder dasselbe ungestörte Vergnügen sein.

Schuld daran ist William Friedkin. Der Maestro hinter All-Time-Faves wie "French Connection" und "Der Exorzist" hat mit seinen 77 Jahren endlich wieder einen rechtschaffen radikalen Film gedreht, einen Noir-Streifen im White-Trash-Milieu, der so tief und unerbittlich - und dabei gegen alle kontemporären Kinomoden ankämpfend - in Sex, Gewalt und Misanthropie watet, daß man sich nach der Sichtung am liebsten ganzkörperlich in Hunderten jener Reinigungstücher wälzen möchte, die frittierten Hendlhaxn öfters beiliegen.

Die Geschichte eines zum Zwecke des Abstaubens einer stattlichen Lebensversicherung arrangierten Auftragsmordes, die naturgemäß mit allerlei ungustiösen Unliebsamkeiten und unerwünschten Nebeneffekten daherkommt, wird von Friedkin selbst nicht ganz untrefflich als "a modern day Cinderella story, where Cinderella´s pimped out to her Prince Charming" beschrieben. Angetrieben von einer erfrischend unsubtilen, dennoch aber leger hakenschlagenden Story, herrlich hinterfotzigem Humor und der kompromißlosen, bewußt auf jegliche Jugendfreigaben pfeifenden Inszenierung ist es insbesonders die in sämtlichen Haupt- und Nebenrollen ohne Furcht und Scham agierende Schauspielergilde (Emile Hirsch, Thomas Haden Church, Gina Gershon und Juno Temple als mehr als nur leicht dysfunktionale Familie), die restlos überzeugt.

Und doch ist "Killer Joe" letztlich in erster Linie die ganz große Show seines Hauptdarstellers. Wie der immer wieder gern als substanzloser Schönling verlachte Matthew McConaughey hier in seiner Rolle als titelstiftender Cop/Auftragskiller komplett und mit Lust an der Ausschweifung aufgeht, sich an einer so schillernden wie abgründigen Persona abarbeitet, das hat sich jeden Schauspielerpreis dieser Saison verdient. Daß ihm ein Auszeichnungsreigen wohl dennoch erspart bleiben wird, liegt naturgemäß weniger an der Qualität seiner Darbietung oder der Inszenierung dieser Filmgroßtat, sondern an beider Radikalität - wobei wir wieder bei der Hendlhaxn wären.

Aber das ist eine andere Geschichte, die hier nicht erzählt und damit gespoilert werden soll. Sehen, staunen, nie mehr vergessen.

Christoph Prenner

Viennale 2012

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