Kolumnen_Miststück der Woche IV/24 - Leserwunsch #34

Athlete: "Wires"

Den Song haben sicher nur wenige noch auf dem Schirm, aber ein Mensch hat ihn sich tatsächlich gewünscht. Daraufhin hörte sich Manfred Prescher das Lied feinsäuberlich an - und war recht angetan von diesem bittersüßen Britpop-Stück.    27.04.2015

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

Seltsam ist es schon, daß dieses Lied regelmäßig im Horror-Umfeld von "Vampire Diaries" oder "Frankenstein´s Wedding" aufgetaucht ist. Dabei handelt es nicht von großen, bösen Monstern, sondern von etwas Kleinem, sehr unschuldig in Bedrängnis Gebrachtem - einem Baby, das viel zu früh auf die Welt kommt. Es hängt an Apparaten statt an der Mutter, wird im Brutkasten am Leben erhalten, statt selbst das Leben zu erhalten. Und doch hofft Joel Pott, Sänger der Band Athlete und Liedautor, daß es das Kind aus eigenem Willen bzw. eigener Agens schafft, aus der Bruthölle heraus- und in die Familie hineinzukommen.

Auf einen Text über so ein Thema muß man erst mal kommen - aber Pott hat ein solches Drama mit seiner Tochter erlebt und es in warmherzige, liebevolle und klare Worte gekleidet. Die waren 2005 so eindeutig nachvollziehbar, daß der Song in Großbritannien in die Top 10 und dort bis auf Platz 4 stürmte.

Man muß, denke ich, solch ein Leid und so eine schwere Zeit mitsamt der Wahrscheinlichkeit des Verlusts nicht erlebt haben, um das Athlete-Stück zu begreifen. Die Eltern sind nicht in der Lage, etwas zu tun. Hände symbolisch auf den Rücken getackert, müssen sie bangend warten und können nur beten, übersinnliche Kräfte anrufen oder das Loslassen schon mal vorab üben. Für alle Fälle - und je nach schnell wechselnder Stimmungslage - gibt es nur solch eher ätherische Möglichkeiten. Obwohl man doch eigentlich das Kind nehmen, es mit Liebe ins Leben bugsieren und es weder im Bastkörbchen noch im Brutkasten aussetzen möchte. Das Herz ist voll von Liebe, aber es leidet, weil es von den Zweifeln, der immer wieder aufkeimenden Hoffnungslosigkeit und dem schier greifbaren Verlust aufgefressen wird. Möglich ist, daß das alles wie beim "Erlkönig" - sowohl der von Goethe als auch die von Hank Erhardt paßt - endet: Mal ist das Kind tot, mal schafft es das Kind, aber der Vater geht während der Warterei jämmerlich jammernd zugrunde.

Athlete beschreiben das Gefühl, dieses flehentliche Bitten an irgendwelche Mächte - egal, an welche, Hauptsache, sie sind dem Kind wohlgesonnen - sehr genau. Vor allem aber bringt Pott die Emotionen rüber, die ihn auf der Frühchenstation wie ein reißender Strom durchfluten: "Überall Drähte, die deine Haut durchbohren/Tränen aus Schmerz und Angst vor dem, was ist und sein könnte, hinterlassen bei uns tiefe Spuren." Pott kann nicht davon erzählen, wie es dem Kind bei seinem Überlebenskampf geht, was es fühlt, sondern er spricht von seinem eigenen Fight gegen die Ängste: "Ich laufe durch Korridore, durch Türen, die sich automatisch öffnen und wieder schließen/Ich muß zu dir - muß bei dir sein/Durchhalten und stark bleiben."

 

Du stehst da, dein Blick wandert umher - du suchst nach Halt. Irgendwo kämpfen sie um dein Kind, dein Kind kämpft vielleicht mit. Ist es aussichtslos? Hat es die Kraft und vor allem den Willen? Machen die Ärzte alles richtig? Du knabberst an deinen Nägeln, die Schlagzeilen des "Spiegel", der im Wartezimmer liegt, verschwimmen zu Bildern einer Zeit, die es vielleicht nie geben wird. Immer wieder siehst du deine Tochter, du siehst, wie sie spielt, über Hausaufgaben sitzt, mit ihren Freundinnen Kindergeburtstag feiert, wie sie ihren ersten Freund mitbringt und du ihn mißtrauisch beäugst. Weil er sie dir ja wegnehmen könnte - was jetzt vielleicht der Tod, der ungerechte Erfüllungsgehilfe, macht. Und du kehrst immer wieder für Momente in die Realität zurück. Wie spät mag es sein? Lakaien haben oft kein Taktgefühl; die männliche OP-Schwester spricht dich laut und ungehobelt an, so, als ob er mit dir beim Preisschafkopfen den Maßkrug stemmen würde. Oder kommt dir das nur so vor? Wie spät mag es sein? Vor vier Stunden war es tatsächlich nur acht Minuten früher als jetzt. Zeit ist sehr dehnbar, wenn man nichts tun kann, um das Kind zu retten.

Du schottest dich ab, läßt dir einen Becher Wasser aus dem blubbernden Spender - nur damit du was tust. Gut, daß kein Schnaps aus dem Plastebehälter fließt. Oder vielleicht auch schlecht. Du weißt es nicht, du weißt nur, daß du nicht willst, daß Ihr - deine Frau, eure Tochter und du - hier sein müssen. "Tränen aus Schmerz und Angst vor dem, was ist und sein könnte, hinterlassen bei uns tiefe Spuren", heißt es da, wie gesagt. Und genau diesen Schmerz spürst du. Überall. Du willst ihn nicht zulassen, weil du die Hoffnung weitergeben willst, fortpflanzen, wie sich Wellen fortpflanzen, wenn ein Stein ins Wasser geworfen wird. Sie soll leben. Unbedingt.

 

 

Nächste Woche geht es hier wieder fröhlicher zu. Dann präsentieren wir unsere Athletenkörper auf dem Sonnendeck. Brüder und Schwestern, zur Sonne, zum Licht, zum Peter Licht. Mit dessen sehr putzigem Lied aus dem Jahr 2001 erfülle ich einen weiteren Leserwunsch. Ich lade euch also zu einer wortreichen Kreuzfahrt ein, ihr dürft eure ParterInnen und KinderInnen (Uli Stein) gern mitnehmen. Ich bin da nicht so. Ich bin eigentlich ziemlich anders, aber ich komm´ recht selten dazu.

 

Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Athlete: "Wires"

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Enthalten auf der CD "Tourist" (Parlophone/EMI)

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