Kolumnen_Linientreu #12

Männer, die auf Leute starren

Von Städtern wird da draußen allerorts Böses behauptet: sie sind arrogant, haben kein Gespür für die Natur und stehlen die Äpfel vom Bauern. Umgekehrt wird uns nur Gutes über die Landbewohner eingehämmert: die sind erdig, authentisch und wissen wenigstens, wie der Hase läuft. Heute breche ich ein Tabu.    29.07.2013

Straßenbahn, U-Bahn, Autobus - die öffentlichen Verkehrsmittel (im Wiener Werbefirmen-Dialekt "Öffis" genannt) sind social ohne network, die dringend nötige Pause zwischen Streß im Job und Streß zu Hause, der bekanntlich viel interessantere Weg zum ohnehin immer gleichen Ziel. Nirgendwo sonst liegen Freud und Neid, Tanzschule und unterste Schublade, Hoffnung und Verspätung so eng nebeneinander. Und die Wahrheit lauert stets irgendwo im Spalt zwischen U-Bahntür und Bahnsteig. Vorsicht beim Einsteigen!

 

Es gibt ein paar ungeschriebene Gesetze in den Öffis. Die respektiert jeder, der in einer Großstadt  aufgewachsen ist, und so leben alle glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Außer, es kommt einer von außerhalb. Einer von dort, wo die Stadtgrenzen ins dunkle, unbekannte Land übergehen. Einer, der "auf" Wien fährt. Oder "daune" nach Wien. Oder "rüber auf" Wien. Aber egal, aus welcher Himmelsrichtung er kommt, eines ist sicher: Er weiß nichts von den Regeln, die das Miteinander auf engem Raum ein wenig erträglicher machen.

Ein geübtes Auge erkennt ihn sofort. Es ist nicht die Kleidung, die ihn verrät, es ist kein bestimmter Duft, der ihn umgibt, es ist nicht die Sprache - er muß gar nicht reden, er hat sich schon bei der Rolltreppe geoutet.

Das leise Zögern enttarnt ihn. Es dauert nur eine Zehntelsekunde, aber die reicht - aufgeflogen. Wenn dann noch die Hand zum Rolltreppengeländer wandert, bevor der Fuß das schwierige Gelände erkundet, ist alles klar: Da kommt einer von "durtn", von "daune", von drüben. Im ersten Moment will man ihm Mut zusprechen. Dann aber setzt das kollektive Unterbewußtsein ein, das die nächste Regel erläutert: nichts sehen, nichts hören und schon gar nicht drüber reden.

Und schon begeht er den nächsten fatalen Fehler: Er sieht, er hört und manchmal redet er auch. Während sich geübte Städter mit riesigen Kopfhörern plus Tablet plus bibeldickem Buch in ihre eigene Welt zurückziehen, macht es der Landbewohner völlig verkehrt - er schaut. Und er schaut nicht nur, er schaut in bestimmte Richtungen. Nicht aus dem Fenster, um in der Spiegelung die Leute heimlich zu beobachten. Er schaut sie ... DIREKT ... an! Er starrt ihnen mitten ins Gesicht! Und er schaut weiter, von oben bis unten, auf große Ohren und ausgefallene Kleidung, auf krumme Nasen und überhaupt alles, was abseits seiner Norm liegt. Er schaut nicht böse, er schaut nur durchdringend. Er versucht zu begreifen. Und wir versuchen unauffällig herauszufinden, ob uns Rotz aus der Nase hängt. Oder ob uns seit der letzten Station ein Horn aus der Stirn gewachsen ist.

Das Starren an sich ist schlimm genug, aber die urbane Reaktion, die darauf folgt, könnte genauso exaltiert sein. Der eine bleibt ruhig sitzen und wundert sich nur. Die andere ist eh schon paranoid und greift zum Pfefferspray. Der dritte schlägt überhaupt gleich zu - ja, das kann schon passieren.

Gut, dann lauscht er eben. Ein Vierersitz in der U-Bahn bietet sich dafür an, die Sitznachbarn ein wenig besser kennenzulernen, zu nicken, wenn er Gefälliges hört, den Kopf zu schütteln, falls nicht. Oder sich gleich einzumischen, wenn´s ihn interessiert. Klar, was auf den langen Heurigentischen normal ist, muß ja auch in der U-Bahn gehen, oder? Setz di her, samma mehr! Magst a Jausn? Übrigens, i bin der Franz ... Erstick an deinem Kulturschock!

Wenn das alles nichts hilft und sich langsam herauskristallisiert, daß Städter äußerst unzugänglich sind, öffnet er seinen Rucksack. Schön weit, damit alle seine Habseligkeiten sehen können. Und er packt aus, was er drin hat, reiht es hübsch auf den Sitz neben sich und gibt es frei für den Flohmarkt. Paß, Geldbörse, Bahnticket, es ist reichlich für jeden da. Und zu Hause wird dann gejammert, wie böse die Stadt ist, und Lieder werden darüber gesungen, wie beängstigend schwarze Lippen und grüne Haare sind.

Liebe Bewohner des weiten Landes jenseits der Außenbezirke! Ich weiß, ihr belächelt uns milde. Beim Gedanken an Naglerner Kipfler-Erdäpfel bekommen wir Stadtmenschen feuchte Augen. Wir bleiben bei jedem Strauch stehen und bewundern ihn wegen seiner Bio-Diversität, verlaufen uns aber auf 10 m² Wald, weil das GPS keinen Empfang hat. Und in euren Gasthäusern bestellen wir alles ohne, dafür mit extra. Ich weiß, das ist peinlich. Im Gegenzug möchte ich euch die Peinlichkeit ersparen, ebenfalls belächelt zu werden, deswegen ein paar Tips für die Öffis einer Großstadt (die Gilde wird mich zwar am nächsten Baugerüst aufhängen, weil ich sie verrate, aber ich sag´s trotzdem):

AUGEN ZU, MUND ZU, TASCHE ZU. So kommt ihr heil wieder "auße" aufs gelobte Land.

Nina Munk

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