Kolumnen_Miststück der Woche III/99 - Leserwunsch #9

Mary J. Blige: "No More Drama"

Nächste Woche feiern wir gemeinsam die 300. Ausgabe dieser Kolumne - mit einem passenden Leserwunsch. Doch zuvor tauchen wir ein in die zwischenmenschlichen Tragödien. Dies tun wir mit einem famosen R&B-Stück, wie Manfred Prescher findet. Ihr könnt euch natürlich weiterhin fleißig Lieder wünschen, die hier in den Mittelpunkt gerückt werden sollen.    20.10.2014

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

 

Man kann gut und gern von "Tragödien antiken Ausmaßes" sprechen, wenn es um das Scheitern von Liebesbeziehungen geht. Seit den Tagen von Elektra hat sich ja auch nicht allzuviel geändert auf unserem Planeten. Zum Beleg empfehle ich euch die Briefe, die Zelda und F. Scott Fitzgerald einander in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zuschickten. Das Buch mit der wahrlich zeitlosen Korrespondenz der beiden liebenden Schriftsteller lese ich gerade. Aber ihr findet Belege über die zwischenmenschlichen Probleme natürlich auch in unzähligen anderen Romanen, Stücken, Filmen, Gedichten oder Liedern. Mal kitschig, wie beim allsonntäglichen "Herzkino" des ZDF, mal ziemlich aufrichtig-ehrlich wie bei Mary J. Bliges "No More Drama", dem Titelstück des fünften, 2001 erschienenen Albums der R&B-Künstlerin. Und so sehr die Tochter eines Jazzmusikers auf der gesamten Platte in die Fußstapfen von Aretha Franklin oder Roberta Flack tritt, so sehr gelingt es ihr, auf zeitlose Weise über das Beziehungsdrama zu singen, das wir doch alle kennen.

Warum also in der Literatur nachblättern, wenn die eigene Liebesbiographie manchmal auch nicht so weit weg ist von der antiken Tragödie? Ein kleiner, knapp fünfeinhalb Minuten langer Popsong reicht schließlich auch, um sich wiederzuerkennen. Man denkt unwillkürlich "ja, auch einem Superstar wie Mary J. Blige geht es wie mir, sie faßt das Drama aber in bessere Worte als meinereiner." Der Text stammt in diesem Fall von Jimmy Jam und Terry Lewis, die das Ganze als Produzenten auch noch mit einem sehr groovigen, ungeheuer lebendig-mutigen Beat unterlegen. Aber das macht nichts, denn auch erfahrene Hit-Lieferanten wie Jam/Lewis haben sicher ähnliche Erfahrungen gemacht wie vier alle. Welche vier eigentlich?

Oh, ich war kurz abgelenkt, weil ich mir überlegt habe, was ich per WhatsApp auf ein Herzchen-Smiley antworten möchte. Also - wir alle haben erlebt, wie es ist, wenn das Herz bricht. Ich sage an dieser Stelle nicht, "wie es uns gebrochen wurde", denn wir sind immer auch ein mitverantwortlicher Teil dieses Vorgangs. Weil wir es beispielsweise nicht geschafft haben, uns mit unseren Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen aufrecht zu positionieren. Weil wir von Verlustängsten geprägt sind, weil wir eventuell Streitereien und Wutausbrüchen aus dem Weg gehen, weil wir dem/der anderen nicht weh tun wollen - und genau das dann tun. Weil das alles so vielschichtig und durchaus komplex ist, wird halt oft ein Drama draus.


Bei Blige spürt der Hörer eine gewisse Resignation, wenn sie singt, daß man die Freunde kennen muß, weil man sonst verbrennt. Sie ist sehr müde von den Dramen, die sie erlebt, erlitten hat, und sie will "das alles" hinter sich lassen. Was nur funktioniert, will sie uns glauben machen, wenn man allein auf der Welt herummäandert. Den Gedanken kennen viele Menschen, auch mir ist der schon ab und zu durchs Dachgebälk gegeistert. Aber er stimmt eben nur bedingt. Das eigentliche Drama ist nämlich, daß man in sich selbst gefangen ist, daß man sich selbst Schmerzen zufügt und der andere in der Regel allerhöchstens ins selbe Horn stößt. Viele Frauen, die Harriet G. Lerners Buch "Wohin mit meiner Wut" gelesen haben, wissen genau, wovon ich hier schwadroniere: Wer sich selbst nicht zutraut, mit dem anderen auf der gleichen Ebene zu kommunizieren und seine Gefühle, die Zweifel, die Ängste und auch seine Konturen nicht zeigt, wird den anderen verlieren. Weil er oder sie sich selber dabei verliert. Dagegen hilft Alleinsein auch nicht wirklich, genauso wenig, wie sich das Herz mit dem Karamellschmodder von Toffifee zusammenkleben läßt.

Für sein Herz ist man schließlich selber verantwortlich, und reparieren kann man es nach Udo L. auch nicht. Ich bin mir sicher, daß man es einem anderen Menschen nicht schenken sollte. Es ist besser, es zu behalten. Denn erstens: Was macht man ohne Herz? Man wird zu einem Steinklotz, den nix mehr berührt, man braucht es also selber - und daher ist es zweitens besser, das Herz für andere Menschen zu öffnen. Man gibt dem anderen den Schlüssel, und er kann sich darin aufhalten, wann und wie er will. Er kann die Kammern und damit den anderen entdecken. Das baut dem Drama vor, glaube ich.    

 

Es gibt Momente, da paßt "No More Drama" perfekt ins eigene Stimmungs-Feng-shui, das steht fest: Dieses fast schon suizidale "Keine Schmerzen mehr/Kein Spiel mehr/Kein Drama mehr in meinem Leben/Niemand mehr kann mir weh tun" beschreibt den Moment, den es oft nach intensiven Beziehungen gibt - "das wird mir nie mehr passieren, ich werde so etwas nie mehr zulassen etc. pp. undsoweiter." Aber irgendwann wird man dann mit Wolf Haas sagen "Es ist schon wieder was passiert", und man ist erneut verliebt. Sonst - auch das singt Mary J. Blige in "No More Drama" - muß man sich auch von der Fröhlichkeit verabschieden.

Karrieretechnisch wurde es für Mary nach der CD "No More Drama" immer dramatischer: Nach der auf Platte gegossenen Aufarbeitung ihrer Drogenjahre, nach der Abrechnung mit der angeblichen Unfähigkeit zu lieben und der Aufzählung der schlimmen Erlebnisse aus gerade mal 30 Lebensjahren ging es mit ihr bergab. Nicht, daß die folgenden Alben "Love & Life", "The Breakthrough", "Growing Pains" oder "Stronger With Each Tear" schlecht waren oder in den Charts untergingen – nein, sie waren samt und sonders sehr persönliche Meisterwerke und schafften es bis auf Platz 1 bzw. 2 der US-Charts. Da aber R&B-Künstler nicht erst seit den Tagen von Motown an den Hit-Singles gemessen wurden, ging es langsam abwärts mit Mary J. Blige. Songs wie "Enough Crying" oder "Take Me As I Am" waren halt einfach zu komplex für den gängig hippen Hops-Mainstream. Ich hoffe wirklich, daß diese Ausnahmekünstlerin wiederkommt, da ihr bisher letztes Werk nun auch schon drei Jahre zurückliegt. Dazwischen hat sie eine eher maue Weihnachtsplatte und den Soundtrack zu Tim Storys Überraschungs-Leinwand-Hit "Think Like A Man" veröffentlicht.

Ich wünsche euch allen, daß ihr keine Dramen erlebt, sondern euch die Liebe findet. Aber bedenkt, was der Weise aus dem Legoland - oder war der aus Helgoland? - sagte: "Man bekommt nur soviel Liebe, wie man selber Liebe geben kann." Daß damit auch manchmal das Drama beginnt, will ich natürlich nicht verschweigen.

Nächste Woche lassen wir es hier fürstlich krachen, weil wir die Nummer 300 feiern. Das tun wir mit "An Tagen wie diesen" von den Dead Trousers, um es mit dem unvergessenen John Peel zu sagen. "So ein Tag, so wunderschön wie heute" wird das Motto der Jubiläumskolumne sein - und ich wünsche euch, daß ihr bis dahin viele kleine Glücksmomente erlebt. Falls euch dazwischen langweilig wird, greift halt in die Glücksbärchi-Tüte und überlegt, welches Lied ihr euch als "Miststück der Woche" wünschen könntet.

  

 

 

Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Mary J. Blige: "No More Drama"

Leserbewertung: (bewerten)

Enthalten auf der gleichnamigen CD (Universal)

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Kommentare_

eiskaltes händchen - 22.10.2014 : 18.14
das titellied der addams family!
michl - 24.10.2014 : 10.22
Livin on a prayer von bon jovi wär der hammer! grüsse, michl
eiskaltes händchen - 25.10.2014 : 10.17
@michl: klingt doch genau so wie its my life. lieber das nehmen

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