Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 11

Nick Cave & The Bad Seeds: "Dig, Lazarus, Dig!!!"

Manchmal ist es einfach lebenswichtig, hochqualifizierte Freunde zu haben, die wissen, wann sie ihre Fähigkeiten einbringen müssen. Für Nick Cave würde Manfred Prescher glatt den Stein von der Grabkammer schieben.    21.01.2008

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder. 

 

Früher, als ich noch ein junger Spring-in-die-Nacht war, wollte ich unbedingt sein wie Nick Cave: ein bleiches Nachtschattengewächs, das sich nicht mit der Bibel zur Wehr setzt, wenn Vampirella zum Beißen kommt. Noch etwas früher wollte ich unbedingt Pfarrer werden - evangelischer natürlich, um mich nicht vor Vampirellas lebendigen Schwestern schützen zu müssen. Heute weiß ich, was ich seinerzeit nicht wissen konnte, weil es weder Birthday Party geschweige denn die Bad Seeds gab: Meine Nähe zu Cave war in der geistlichen Phase eigentlich noch größer. Schließlich ist auch der Australier ein bibelfester Mann mit einem nicht zu unterschätzenden Sendungsbewußtsein. Seine Exegesen sind zwar in der Regel nicht konform mit den Gesetzen von Papst Benedikt, aber seine Beschäftigung mit dem Buch der Bücher ist nicht nur eigenwillig, sondern durchaus auch tiefgehend.

Das neue, 14. Studioalbum vom Nick Cave und seinen Bad Seeds ist aber kein Priesterseminar in Molltönen. Die Titel der Songs klingen eher nach dem Lehrplan einer Gesamtschule, die möglichst viele Belange des Lebens umfassend philosophisch beleuchten will. Dabei spielt die Religiosität sicher eine große Rolle - und das nicht nur wegen des Stücks "Dig, Lazarus, Dig!!!" Daneben gibt es auch einen Song namens "Jesus Of The Moon", der wahrscheinlich den Heiland auf dem uns umkreisenden Geröllhaufen zu den Steinen predigen läßt. Wer weiß, vielleicht ist der karge Ort viel friedlicher, als es die Erde je war oder sein wird. Vielleicht ist aber alles auch ganz anders und Gottes Sohn wacht vom Erdtrabanten aus über uns? Das werden wir spätestens Anfang März wissen, wenn die CD herauskommt. Vorher können wir uns mit dem Titelstück beschäftigen, das sich auf der Band-Website kostenlos und legal herunterladen läßt.

Im Vergleich zu den vorangegangenen Studioalben von "Let Love In" (1994) bis zum Doppelwerk "Abattoir Blues/The Lyre Of Orpheus" (2004) wirkt der Song "Dig, Lazarus, Dig!!!" eher harsch und weniger beschaulich. Er klingt etwa so, als wäre er ein Bastard von Bad Seeds und Grinderman, der abgespeckten Jungbrunnen-Variante der Dauerbegleitband. Damit war der längst verloren geglaubte Schlachter-Rock von Nicks (und meiner) Jugend wieder da. Grinderman waren näher am Lazarus-Mythos, als man annehmen sollte, da die Figur aus dem Johannes-Evangelium und den geheimen Aufzeichnungen des Apostels Markus nach ihrem zweiten Tod zum Schutzheiligen der Metzger ernannt wurde. Sicher wacht Lazarus jetzt auch über langhaarige Männer mittleren Alters, die simple Popsongs zur Schlachtbank tragen und dort mit klingenden Beilen zu Extrawurst verarbeiten.

Im Ernst: Auf www.musikexpress.de beschreibt der Poet der Finsternis, was die Geschichte des Lazarus für ihn bedeutet: "Ever since I can remember hearing the Lazarus story, when I was a kid, you know, back in church, I was disturbed and worried by it. Traumatized, actually. We are all, of course, in awe of the greatest of Christ´s miracles - raising a man from the dead - but I couldn´t help but wonder how Lazarus felt about it. As a child it gave me the creeps, to be honest. I´ve taken Lazarus and stuck him in New York City, in order to give the song, a hip, contemporary feel. "

 

Im Jahr des Herrn 2008 gibt es sicher nicht nur einen Lazarus, sondern viele - in New York oder sonstwo, weil gestorben wird traditionell immer und überall. Mancher unter den Lazarussen hat womöglich sogar zwei Schwestern, die (der göttliche Zufall der elterlichen Namenseingebung macht sowas spielend möglich) am Ende sogar Martha und Maria heißen. Der Unterschied zur historischen Gestalt ist einfach erzählt, aber doch im individuellen Fall tragisch: Weil der Ur-Lazarus ein guter Freund von Jesus himself war, war der Heiland richtig traurig, als er vom Tod des Kumpels erfuhr. Laut Johannes flossen sogar Tränen, aber dann machte sich der Heiland auf den Weg nach Bethanien und holte Lazarus wieder ins Leben zurück. Wie lange der dann noch auf Erden herumwanderte, ist ungewiß; er soll aber vor seinem endgültigen Ableben weit herumgekommen sein. Zumindest liegen seine Gebeine angeblich seit dem Mittelalter in Marseille. Der heutige Lazarus kann leben und sterben, aber mit dem Wiedererwecken hapert es ganz gewaltig. Das liegt wohl daran, daß Jesus nicht zu seinem direkten oder erweiterten Freundeskreis zählt.

Da sieht man mal wieder, was es ausmachen kann, wenn man nicht über die richtigen Bekanntschaften verfügt. Will unser Lazarus von unter der Erde ans Tageslicht zurück, kann er nur hoffen, daß man ihn lebendig begraben hat und er über ausreichend Sauerstoff und Bewegungsfreiheit für die Arme verfügt. Dann heißt es graben, was das Zeug hält, immer an den Wurzeln der Radieschen vorbei. Womit wir ganz eindeutig wieder bei der gar nicht so frohen Botschaft des neuen Nick-Cave-Songs wären ...

Für alle Heiden habe ich an dieser Stelle einen Trost: Beim nächsten "Miststück" hat uns die Sünde wieder - mit der neuen Single von Lenny Kravitz.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Nick Cave & The Bad Seeds - Dig, Lazarus, Dig!!!

(Photos © Steve Gullick)

Leserbewertung: (bewerten)

Mute/EMI (GB 2008)

Links:

Kommentare_

Kolumnen
Fundamentalteilchen 17/417

Alte Freunde, neue Zeiten

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 17. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ina Müller.
 

Kolumnen
Fundamentalteilchen 16/416: Der Winter steht vor der Tür

Wolle mer ihn reinlasse?

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 16. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Deine Freunde.  

Kolumnen
Fundamentalteilchen 15/415: Der vermaledeite Brummschädel

Das ewige Kommen und Gehen

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 15. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ava Vegas.  

Kolumnen
Fundamentalteilchen 6/406: Haruki, Elvis und ich

Literatur ist es, wenn man trotzdem lacht

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die sechste Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Elvis Costello.  

Kolumnen
Fundamentalteilchen 5/405: Seit sieben Wochen keine komischen Streifen am Himmel und jeder dreht durch

Angriff der Kichererbsen

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die fünfte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Lana Del Rey.  

Kolumnen
Fundamentalteilchen 4/404: Mach nicht so viel Wind, mein Kind

Wenn es draußen stürmen tut, ist das Wetter gar nicht gut

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die vierte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Charlotte Brandi & Dirk von Lowtzow.