Kolumnen_Miststück der Woche IV/31 - Leserwunsch #41

Sex Pistols: "Holidays In The Sun"

Der Leser war nicht sicher, ob er sich "Holidays In The Sun" oder "Holiday In Cambodia" von den Dead Kennedys wünschen sollte. "Irgendwas mit punkigen Urlaubsgrüßen halt", meinte er. Manfred Prescher suchte sich daher das Lied raus, das ihm selber mehr bedeutet.    22.06.2015

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

Als ich 16 Jahre alt war und sich wieder mal dieses ominöse Fest der Liebe ankündigte, das bei uns in der Familie traditionell als "Fest der Hiebe" in all seiner Übergriffigkeit begangen wurde, hatte ich nur zwei Wünsche: entweder wollte ich, daß mich die Erde verschlingen möge, oder ich wollte so viel Wut eingeimpft bekommen, daß ich die Welt meinerseits runterwürgen könnte.

Deshalb stand auf meinem Wunschzettel ein Album, das kurz vor Weihnachten 1977, im Oktober, auf den bereits mit den drei Singles "Anarchy In The UK", "God Save The Queen" und "Pretty Vacant" vorbereiteten Markt der bitteren Notwendigkeiten geworfen wurde: "Never Mind The Bollocks Here´s The Sex Pistols" war nicht nur eine LP, nicht nur Punk - das Werk ragt bis heute wie ein schroffer Achttausender über die meist eher flache Musiklandschaft hinaus. Denn trotz der großflächigen Marketing-Strategie von Malcolm McLaren, den Skandalen und Skandälchen, die normalerweise angezettelt werden, um Substanzlosigkeit zu übertünchen, ist diese beinahe nie erschienene Platte vollkommen.

Was die Herren Rotten, Jones, Matlock, Cook und - nur als Hintergrundsänger - Vicious da aufnahmen, kultiviert den Zorn auf einem für damalige Verhältnisse nie gekannten Power-Level. Selbst die frühen Motörhead waren nicht wilder; vor allem trafen sie nicht so unmittelbar auf die wachsende Wut eines Jungen, der nie wirklich Kind sein durfte, aber auch nicht erwachsen sein wollte. Weil, so dachte er, dann müßte man "so werden wie die". Und, um es mit Ton Steine Scherben zu sagen, "ich will nicht werden, was mein Alter ist". Die Pistols wollten das auch nicht, sie spuckten auf das gesellschaftliche Erbe und die Gegenwart oder trampelten in "Holidays In The Sun" mit Springerstiefeln in den kontaminierten Grund und Boden, den wir ja von unseren Eltern ungefragt und versaut überschrieben bekamen.

 

An jenem Unheiligen Abend bekam ich sie also geschenkt, diese Scheibe, die in dem berühmten gelben Cover mit dem simplen Artwork steckte. Die Optik hat übrigens der freundliche Verlag EVOLVER BOOKS ebenfalls - und zu Recht - für das erste "Miststück"-E-Buch, das es für alle Plattformen preiswert zu erwerben gibt, übernommen. Das paßt perfekt, denn "Never Mind The Bollocks" ist für mich eine der zehn Überlebensplatten. Wirkungsvoll bei Trennungen ("Bodies", "No Feelings", "Pretty Vacant"), beim endgültigen Abschied von der sogenannten Kernfamilie ("Liar", "Problems", "Seventeen"), beim Haß auf "die" Gesellschaft mit ihren Kriegen, Krisen, Radikalenerlässen, auf die man als aufgeweckter Teenager einen gesamtheitlichen Zorn hatte ("Anarchy In The UK", "EMI", "Submission") - ein Dutzend Songs lenkte die Wut hin zu einem ersten Kulminationspunkt und drängte den Kolumnisten auch zu radikaleren politischen Ansichten.

 

Und warum das alles? Unter anderem, weil Johnny Rotten so schneidend-böse sang, dabei mit dem "R" fränkisch vertraut rollte, weil die eingängigen Songs so unglaublich rattenscharf produziert waren - und weil die Lyrics bei aller Kürzelhaftigkeit auf eine zornige Art sehr poetisch waren. Dazu kam, daß John Joseph Lydon - alias Rotten - nur fünf Jahre älter war bzw. ist als ich, aus durchaus ähnlichen Verhältnissen stammt und ebenfalls inmitten eines städtischen Problembezirks aufwuchs.

Als dann eine Woche vor dem Album mit "Holiday In The Sun" die vierte Single vorab erschien, war mir klar, daß ich diese "Bladde" unbedingt haben MUSSTE. Ich hab´ sie bis heute in Ehren gehalten, nur immer wieder um die jeweils aktuelle Digitalausgabe ergänzt. "Bollocks" fängt immer noch mit dem Stiefel-Marsch von "Holiday In The Sun" an, mit jenem verstörenden Lied, in dem Rotten singt, daß er keinen Urlaub am Meer oder sonstwo machen möchte, sondern lieber in der Gedenkstätte des KZs Bergen-Belsen oder an der damals noch real existierenden Berliner Mauer - ihr wißt schon, das Teil, an dem Kennedy einst "ein kleiner Stein für mich, ein böser für die Menschheit" sagte - seine Freizeit verbringen. Denn er, so Rotten, möchte die Geschichte begreifen.

Auch das paßte. All der Haß, den auch der Kolumnist auf die Altvorderen verspürte, hatte viele Ursachen in der Zeit, in deren Zentrum die beiden Weltkriege standen. Oder um es mit Harald Schmidt zu sagen: "Wie sollen wir denn eine Altengeneration ehren, die erst alles mit Vehemenz zu Bruch haut, nur damit sie dann auf den Wiederaufbau stolz sein kann?" Rotten tobt durch seine "Holidays", seinen persönlichen - oder eben auch meinen - "Blitzkrieg mit der Vergangenheit", ohne Vergebung zu gewähren. Es bleiben fassungslose Wut und Verzweiflung ob der menschlichen Abgründe. Diese Wut war zur Abgrenzung dringend nötig. Schließlich heißt es doch in der Umdichtung eines reaktionären Schlagers von Roberto Blanco: "Ein bißchen Wut muß sein, dann stürzt die Welt von ganz allein." Frieden schaffen mit Schnellfeuerwaffen - und sei es nur ein präzises Stakkato-Mundwerk? Nein, das klappt natürlich nicht. Der Friede muß schon von innen heraus kommen, sich übertragen. Aber das klappt vielleicht nur, wenn man sich vorher einer Katharsis durch die Sex Pistols unterzieht: "Now I got a reason and I´m still waiting!"

 

 

 

Nächste Woche geht es an dieser Stelle um einen weiteren Klassiker: Ein Leser wünschte sich was von den Who. Nicht von Doctor Who 1 bis 13, sondern von der Band, die in den sechziger Jahren den Grundstein für die Sex Pistols lieferte. Weil der "Miststück"-Fan in puncto Songauswahl vage blieb, entscheide ich mich in einer Spontanunion mit mir selbst für die Spinne Boris und laß die dann durch die Kolumne krabbeln. Keine Angst, das Tier will nur spielen. Spinnen sind übrigens genauso nützlich wie Schnegel, es genügt auf jeden Fall, sie mit der Müslischüssel zu fangen und dann beim bösen Nachbarn im Garten auszusetzen. Ach - und ehe ich es vergesse - ich wollte noch was zum Dezember 1977 sagen: Wenn ich mich recht erinnere, wurde damals der Montag offiziell als erster Tag der Woche eingeführt. Es könnte natürlich auch anno ´76 oder ´78 gewesen sein. Egal. Seit Ende 2005 ist der Montag auf jeden Fall der Tag, an dem das "Miststück" vom Himmel fällt.

 


Manfred Prescher

Sex Pistols: "Holidays In The Sun"

Leserbewertung: (bewerten)

Enthalten auf der CD "Never Mind The Bollocks, Here´s The Sex Pistols" (Universal)

Links:

Jello Biafra’s Incredibly Strange Record Collection


Wozu in 80 Tagen um die Welt reisen, wenn man stattdessen auch die Plattensammlung von Jello Biafra ordnen und sich durch ein Kuriositätenkabinett auf Vinyl wühlen kann? Das hat sich Rokko auch gedacht - und ist für einige Wochen beim ehemaligen Frontman der Dead Kennedys eingekehrt.

Links:

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