Kolumnen_Miststück der Woche III/84

Sweet Lemon: "Baby I Don´t Care"

Heute wagt Manfred Prescher eine Prognose in die eigentlich eher vage Zukunft: Diese beiden jungen Damen werden es nach oben schaffen. Womit? Mit Recht, Talent und einer ungeheuren Ausstrahlung.    07.07.2014

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

Meine Freundin fragte mich unlängst, ob ich Sweet Lemon kennen würde. Ich mußte zugeben, daß ich zunächst an eine merkwürdige Limonade dachte, irgendetwas wie Lemon Soda aus Italien. Lecker und extrem süß. Ich kann mich erinnern, daß ich vor Jahr und Tag auf der Piazza della Signoria in Florenz stand und ein kleines Fläschchen von dem Zuckerwasser trank. Mit dem Effekt, daß ich plötzlich Durst bekam und mich am liebsten in den nächsten Brunnen gestürzt hätte. Das Ganze muß so 1993 oder ´94 gewesen sein, auf jeden Fall waren Lena und Sophie Haslberger da noch weit und breit nicht auf der Welt. Was aber nicht bedeuten soll, daß man die beiden jungen Künstlerinnen auf das "Süß" in ihrem Bandnamen Sweet Lemon reduzieren sollte. Denn eigentlich ist ihre musikalische Limonade doch sehr anregend, folglich überhaupt nicht klebrig. Und sie selbst sind sehr talentierte, erstaunlich reife Songschreiberinnen.

Die Haslbergerinnen sind übrigens tatsächlich gleich alt - aber keine Zwillinge, sondern zwei Drittel von Drillingsschwestern. Sie sehen sich durchaus ähnlich, sind aber schon vom Gesang her deutlich zu unterscheiden. Lena hat eine erstaunlich tiefe Stimme, während Sophie fast glockenhell tönt. Das ergibt eine sehr eigene Mischung, die freilich durch das weise Songwriting noch unterstützt wird. Nachzuhören ist das noch kaum, höchstens, man läßt Bayern 3 im Dauerloop vor sich hinstromern. Was man natürlich nicht tut, weil man dann zwangsläufig über Xavier Naidoo oder so stolpern würde. Gerade eben, während ich das hier schreibe, läuft beispielsweise Lady Gaga mit "Paparazzi". Das braucht man meist genausowenig wie irgendwas schon bei Entstehung Altbackenes von Bon Jovi. Also muß man warten, bis Sweet Lemon eine Platte veröffentlicht haben werden. Das wird bald der Fall sein, weil sie ohnehin jeden Bandwettbewerb gewinnen, den es in an Bandwettbewerben gar nicht mal so armen Oberbayern gibt. Ihr "Baby I Don´t Care" hat auf jeden Fall - und da haben die Damen und Herren von Bayern 3 doch recht - Hitpotential.

Das Merkwürdige an Sweet Lemon ist nicht, daß die beiden Teenager sehr talentiert sind, sondern eher, wie erwachsen und ausgereift ihre Musik klingt. Mi ihren folkigen, rockigen und bewußt handgemachten Sounds beziehen sie sich wahrscheinlich nicht auf Joni Mitchell oder Suzanne Vega. Aber wer weiß ... Mich erinnert ihre Herangehensweise an musikalische Traditionen sehr an Kitty, Daisy & Lewis, die als Kids die Plattensammlung der Eltern geplündert und für sich entdeckt haben. Wenn dieser Forscherinnengeist auf Spielfreude und Können trifft, dann kann sich etwas entwickeln. Und zwar ganz egal, ob du - wie Kitty & Co. - aus der Metropole London oder aus Au in der Hallertau kommst. So wie Sweet Lemon. Au liegt übrigens ziemlich genau 60 Kilometer nördlich von München. Es ist nicht davon auszugehen, daß Lena und Sophie samstäglich ins "Atomic Café" fahren und sich da ihre Informationen holen. Da es aber außer Hopfen ("Hopfen und Malz, Gott behalt´s") nicht viel gibt in der Hallertau, muß im Umfeld richtig gute Musik umherschwirren.

 

Gerade läuft auf Bayern 3 "Like A Prayer" von Madonna. Die folgt auf das neue Lied von Jason Mraz. Komisch ist aber, daß sich im Radio alles gleich anhört. Da paßt dann AC/DC zu Avicii und so weiter. Was machen die nur mit den Songs? "Baby I Don´t Care" klingt demgegenüber - bei aller Perfektion - recht rauh und ungeschliffen. Hoffentlich bleibt das so. Und wo ich gerade bei Madonna bin, muß ich wieder den Schlauberger rauslassen: Wußtet ihr, daß Madame Ciccone mal ein Duett mit Prince aufgenommen hat? Die beiden waren da schon große Stars, wenn auch körperlich deutlich kleiner als die Lemon-Mädels. Das gesuchte Lied heißt "Love Song" und kommt auf dem auch nach 24 Jahren noch nach Patchouli stinkenden Album "Like A Prayer" als drittes Stück - nach dem Titeltrack und "Express Yourself".

Woran man so denkt, wenn man eine Kolumne schreibt, nachdem man eine Ü-Irgendwas-Party besucht hat ... Der DJ dort, deutlich jünger als die zunächst eher verhalten vor sich hinwippende Crowd, mischte wirklich Songs aus allen Epochen so zusammen, daß es einen erfahrenen Resident-Mixmaster wie mich verblüffte und begeisterte. Innerhalb einer Stunde ging es von den 50ern in die Jetztzeit - und retour. Aber irgendwann sprach dann der alte Häuptling der Indianer "Wild ist der Westen, ich hab´ jetzt genug", und ich ging zu Bett. Worauf ich raus will: Der DJ hatte einen sehr spielerischen Zugang zur Musik; zeitliche und inhaltliche Zusammenhänge fehlten erst einmal. Und so entstand zwangsläufig etwas Neues. Genauso ist es bei Sweet Lemon.

Ich beende das Ganze jetzt mit dem obligatorischen Hinweis auf die nächste Woche. Dann werde ich mich gleich um drei alte Männer kümmern, denn Marc Almond, Brian Setzer und Andy Williams sind wieder da. Dazu werde ich dann noch ein, zwei Sätze zum neuen Morrissey-Album verlieren und mich über wilde Kerle auslassen. Speziell für den Herausgeber von EVOLVER und mich, die wir nun mal "alt, aber bezahlt" und doch ziemlich cool über den Planeten quokkern, werde ich eine alterswilde Kolumne schreiben. Bis dahin: Paßt auf euch auf, ich brauch´ schließlich LeserInnen. Um es mit Frank Sinatra zu sagen: "You make me feel so young".

 

 


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Sweet Lemon: "Baby I Don’t Care"

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Kommentare_

der Herausgeber - 01.07.2014 : 22.39
Dir zuliebe, o alterswilder Manfred, lassen wir sogar ausnahmsweise das Bienen-I zu ...

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