Kolumnen_Unten ohne

2 in 1 oder: Barfuß gegen Burnout

Wundern Sie sich auch gelegentlich, wenn Ihnen fernab von Wald und Wiese Menschen ohne Schuhwerk begegnen? Kein Grund zur Panik - dahinter steckt ein tieferer Sinn. Katja Kulin geht ihm (bloßfüßig) auch in der vierten Folge ihrer EVOLVER-exklusiven Kolumne "Unten ohne" nach.    29.04.2013

Der moderne Mensch hat so viel freie Zeit wie nie zuvor in der Geschichte des Homo sapiens. Doch gleichzeitig stand er auch nie zuvor unter so viel Streß und Druck. Ausgebrannte Wracks stehen längst nicht mehr in zwielichtigen Nebenstraßen heruntergekommener Viertel, sondern sitzen in Büroräumen, Universitäten, Schulen und Wartezimmern. Um dem Streß ein wenig entgegenzuwirken, übt der Mensch sich in autogenem Training, Yoga, Pilates und Meditation. Für das Versprechen von Entspannung und Wohlgefühl gibt er gern Millionen für Kurse, Ratgeber oder DVDs aus. All das ist sicher oft hilfreich. Es ginge aber auch einfacher.

 

Wie, das hat der Leser an dieser Stelle sicher schon erraten. Wer hier an das Ausziehen von Schuhen und Socken denkt, liegt richtig. Aber warum eigentlich?

Dazu sei etwas weiter ausgeholt: Evolutionsbiologisch betrachtet ist Streß eine sinnvolle Reaktion des Körpers. Puls, Blutdruck und Atemfrequenz steigen, die Muskeln spannen sich, Streßhormone werden ausgeschüttet. All das ermöglichte unseren Vorfahren eine blitzschnelle Reaktion auf Gefahr. Die freigesetzte Energie wurde durch Kampf oder Flucht abgebaut. Heutzutage läuft eine Streßreaktion oft ins Leere, und ein innerer Druck bleibt bestehen.

Als Dauerzustand wirkt Streß sich negativ auf den gesamten Organismus aus und ruft körperliche Beschwerden wie zu hohen Blutdruck, Rückenbeschwerden und Schlaflosigkeit hervor, die letztlich im Burnout enden können.

Zukunfts- und Versagensängste, von denen heute schon Kinder geplagt werden, Mobbing und soziale Isolation sind keine greifbare Bedrohung, gegen die man sich mit einem Keulenschlag oder der Flucht in die sichere Höhle zur Wehr setzen kann. Die relative Wahlfreiheit der Lebensgestaltung, die wir heute haben, die unzähligen potentiellen Möglichkeiten auf dem Lebensweg sind nicht nur ein Segen, für den wir dankbar sein können, sondern gleichzeitig auch eine Last, die manch einen erdrückt.

Ein Abschalten vom Alltag und Ausbrechen aus den Sorgen fällt vielen Menschen schwer. Was das angeht, sind die oben erwähnten Entspannungsmethoden hilfreich; zum Abbau des inneren Drucks wird von Ärzten körperliche Betätigung empfohlen. Läuft man nun in der Natur barfuß, so ergibt sich eine schöne und wirksame Kombination aus beiden Methoden zur Entstressung.

Nach all dem Grau des Alltags wirkt der Spaziergang im Grünen - der für den Menschen ja eigentlich natürlichen Umgebung - generell entspannend. Wer sich aber in seinen Gedankenspiralen schon verfangen hat, wird auch in einer schönen Landschaft nicht so leicht wieder aus ihnen herausfinden können, denkt an die ungewisse Zukunft oder bleibt in Vergangenem verhaftet. Ist man jedoch unbeschuht unterwegs, ist man rasch nirgendwo anders als im Hier und Jetzt. Beim Barfußlaufen muß man mehr auf seine Umgebung achten, geht langsamer und bewußt, achtet auf seine Schritte, schaut, wohin man tritt. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf den Weg und das Gehen - und damit sind wir schon sehr nahe an dem, was Meditation bedeutet.

In der Meditation ist Achtsamkeit ein Begriff von besonderer Wichtigkeit. Im engeren Sinn bedeutet er das bewußte Wahrnehmen aller äußeren und inneren Vorgänge, ohne sie beurteilen oder ändern zu wollen. Ähnliches erfährt auch der Barfußwanderer. Nach einiger Zeit der Erfahrung ist die Umgebung rasch nach möglicherweise problematischen Stellen "abgescannt", und der Geist kann sich für anderes öffnen.

Als Barfüßiger nimmt man nicht nur durch die Vielzahl sensorischer Rückmeldungen an der Fußsohle plötzlich Dinge wahr, die einem zuvor nie aufgefallen sind, sondern auch manch gedanklicher Prozeß kann in Gang kommen oder eine neue Richtung nehmen. Man ist ganz im Hier und Jetzt, man lebt den Moment im wahrsten Sinne des Wortes, und das ist ein beglückendes Gefühl. Nicht zuletzt erdet das Barfußgehen und führt uns ein Stück zurück zu unserer eigentlichen Natur, von der wir im Alltag meist entfremdet sind.

Ist das Ausziehen der Schuhe damit also ein Allheilmittel für die Anforderungen unserer Gesellschaft und unsere Sorgen? Natürlich nicht. Denn unsere Sorgen sind real - und kein Yoga, kein Jogging und auch kein Barfußlaufen wird echte Probleme lösen. Aber es kann helfen, anders mit ihnen umzugehen, uns nicht vereinnahmen zu lassen und unseren Blick für mögliche Lösungen zu öffnen.

Katja Kulin

Barfuß zu mehr Gesundheit und Lebensfreude

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Kommentare_

dago - 01.05.2013 : 02.13
durch das barfusslaufen gehe ich bewusster und wandere auch mehr als früher - einmal die woche lasse ich sogar das auto stehen und laufe die 10km in die firma - dabei kann ich herrlich entspannen und über die wichtigen und weniger wichtigen dinge des lebens nachdenken.... es ist ein echter gewinn für meine lebensqualität ( geht inzwischen so, seit 2 jahren - to be continued.... ;-) )
unci - 01.05.2013 : 20.04
Viele von uns stehen geistig unter druck und sind gleichzeitig körperlich unterfordert - das bringen schreibtischberufe nun mal mit sich. Manche finden ihren ausgleich in sportarten, in denen sie sich bis zur totalen erschöpfung verausgaben können. Ich bevorzuge einen etwas sanfteren weg und gehe barfuß in der natur spazieren, so wird jeder schritt zum unmittelbaren erlebnis und das geht auch über viele stunden und kilometer, ohne an den rand seiner leistungsfähigkeit zu gelangen. Gerade heute erst von einer 18-km-wanderung zurück, möchte ich jetzt alle paar tage machen.
Jittoku - 04.05.2013 : 23.49
Gegen Stress hilft es, daran zu denken, was einem im Leben wichtig ist (siehe http://www.gehirn-und-geist.de/alias/psychologie/yes-you-can/1193285). Barfuß zu laufen gibt ein Gefühl von Echtheit im Leben und holt einen wieder zurück.
Minnie - 03.07.2014 : 00.46
Klasse geschrieben; das Lesen hat mir viel Spaß und mal wieder Lust auf das Schuheausziehen gemacht - gerät leider zu oft dann trotz der positiven Erfahrungen wieder in Vergessenheit!! Aber jetzt werd ich mal wieder dran denken :o)

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