Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen

Vergessenskultur

Dr. Trash empfiehlt: Halten Sie sich von der amtlich verordneten Dauererinnerung an Dinge, mit denen Sie sowieso nichts zu tun hatten, nach Möglichkeit fern. Ansonsten würden Sie eh nur dem ewigen und nur ein bissl anders maskierten Klassenfeind zum Opfer fallen ... Setzen Sie stattdessen auf die Vergessenen: ebenso unbekannte wie geniale Autoren und Coverzeichner, die schon vor Jahrzehnten demonstrierten, wie man arbeiten kann (und muß), wenn man kein Staatskünstler ist.    14.09.2016

Ich mag vergessene Autoren.

Für einen Privatgelehrten, der gern in den Archiven forscht, ist sowas nicht ungewöhnlich. Schließlich besteht angesichts der vielen vergessenswerten Schriftsteller, die heute in den Bestsellerlisten herumlungern und morgen schon auf den nächsten Auftritt im Staatsfernsehen warten, ein dringender Bedarf an (Wieder-)Entdeckungen. Und die finden sich nicht an den Orten der Hochkultur (also dort, wo man auch den Doc nur selten findet), sondern in Antiquariaten, den letzten paar Romantauschzentralen, Internet-Schatzkammern und den wuchernden Sammlungen großer Geister, die nur selten das Haus verlassen.

Und es begab sich, daß ich vor einigen Wochen bei einem Altwarentandler vorbeiging, routinemäßig die Bananenkartons voller Bücher durchsah, die vor der Auslage standen, und ein paar interessante, abgegriffene Taschenbücher bemerkte. Roter Schnitt, reißerische Covers, wunderbare Titel wie I Die Possessed, Worse Than Murder und Cairo Intrigue. Von J. B O´Sullivan, David Duncan und William Manchester. Bester und zu Unrecht vergessener US-Pulp aus den 40er und 50er Jahren. Krimis und Abenteuerromane. "Ein Euro pro Stück", sagt der Händler, der sichtlich froh sein wird, wenn er diese Werke los ist. "Wieviel haben Sie denn da?" frage ich und lasse mein Bargeld dort, um den Restbestand mein eigen nennen zu dürfen.

Zu Hause, beim Blättern und Lesen, gelange ich dann wieder einmal zu dem Schluß, daß die Verfasser dieser und anderer Pulps zu Unrecht vergessen sind. Sicher, es kann nicht jeder ein Chandler oder Hammett sein und posthum zum Diogenes-Star werden - aber das waren Männer, die ihr Handwerk verstanden, am Fließband produzierten und doch oft äußerst Lesenswertes zustandebrachten (im Gegensatz zu den meisten heutigen Absolventen von Schreibschulen und -seminaren).

Und weil Sie vielleicht nicht das Glück haben werden, auf einen solchen Schatz zu stoßen wie ich letztens, empfehle ich Ihnen, verneigter Leser, diesmal den Wibra-Verlag, auf dessen Website Sie Woche für Woche neue alte Klassiker der deutschsprachigen "Trivialliteratur" des frühen zwanzigsten Jahrhunderts finden und gratis herunterladen können. Da gibt es die Originalabenteuer von Rolf Torring aus den Dreißigern, die schauderhaften Gangsterdramen um Al Capone (50 Bände, auch in den 30er Jahren - die wußten noch, wen man in Heftln feiern muß!), Erzählungen um den Western- und späteren Revuehelden Buffalo Bill, die interessantesten Fälle des Detektivs Nick Carter und des heute - wie gesagt, zu Unrecht - vergessenen Frank Allan.

Dafür haben sich die Herrschaften von Wibra durchaus eine Spende verdient.

Dr. Trash

Dr. Trash empfiehlt

(Illustration © Jörg Vogeltanz)


erscheint in gedruckter Form in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

Links:

Denn sie wissen nicht, was sie tun ...

Pulp Fiction


Wenn sogenannte "Kritiker" eines können, dann ist das g´scheit reden oder sich selbst und ihr halbgares Fachwissen zwischen den Zeilen in den Mittelpunkt stellen. Halten Sie sich lieber an echte Experten wie Martin Compart - der verrät Ihnen diesmal die wahre Bedeutung von "pulp fiction".

Links:

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