Akzente_Sommerliche Klassik

Dresscode: Tracht

Am letzten Juni-Wochenende begannen zwei wichtige sommerliche Klassik-Festivals: die Styriarte in Graz und der Musiksommer in Grafenegg. Beide Eröffnungskonzerte boten Kunst vom Feinsten - und interessante Garderobe im Publikum.    02.07.2010

Die Styriarte feiert heuer ihr 25. Jubiläum, unter dem Motto "Heimat, bist du". Sowas kann man natürlich auch als "Aufruf an alle Patrioten" mißverstehen. Die steirische Schickeria jedenfalls pilgerte geschlossen zur Grazer List-Halle: in feinster Tracht – oder was die Damen und Herren eben dafür halten.

Eigentlich wurde das Festival ja mit dem Hintergedanken gegründet, Nikolaus Harnoncourt mehr an seine Heimatstadt zu binden. Der steirische Stardirigent hat im Lauf der Zeit denn auch hochinteressante Projekte in der Landeshauptstadt umgesetzt, nicht zuletzt formidable Opernaufführungen. Eines der größten Highlights war dabei sicher George Gershwins "Porgy and Bess".

Heuer wurde mit Friedrich Smetana eröffnet; getreu dem oben genannten Motto fiel die Wahl auf seine einzigartige Tondichtung "Ma Vlast" (Mein Vaterland). Smetana war ein Zeitgenosse von Richard Wagner, was man auch an der Instrumentierung merkt; und doch beherrschte er die Nuancierung der Klangfarben fast besser als sein deutscher Komponistenkollege.

Harnoncourt hat das Werk zuletzt mit den Wiener Philharmonikern im Jahre 2003 aufgeführt (und auf CD eingespielt), der Vergleich machte  neugierig. Die Philharmoniker traten damals in großer Besetzung auf (acht Kontrabässe), und Harnoncourt kostete das Klangspektrum des Meisterorchesters natürlich aus.

Die sieben Jahre Unterschied zwischen den beiden Aufführungen waren sofort hörbar, nicht zuletzt bei der Interpretation. Heuer hatte Harnoncourt mit seinem Chamber Orchestra of Europe bestens auf ihn eingeschworene Musiker zur Hand.

Gespielt wurde in einer kleineren Streicherbesetzung (mit zwei Kontrabässen). Alle sechs Teile waren phantastisch transparent und hochdynamisch; großartig, wie Harnoncourt die Melodiebögen formte. Aus dem bekanntesten Stück - "Vltava" (Die Moldau) - machte der Maestro eine echte Pastorale. Das Hauptthema wurde fast elegisch leise gespielt, die "Jagd" war imposant, und der "Nymphenreigen" zum Weinen berührend. Hier hat sich Harnoncourt selbst übertroffen. Gut, daß er im Vergleich zur Produktion von 2003 die Schlußakkorde spitz und prägnant spielen ließ.

Eine Pause zwischen drittem und viertem Teil gab es allerdings auch diesmal. Und erneut war ein leichter Spannungsabfall festzustellen. Die Konzentration des Orchesters hatte nachgelassen, was man vor allem im pastoralen Holzbläserteil beim sechsten Teil "Blaník" merkte. In diesem Abschnitt zitiert sich Smetana übrigens selbst, beim Allegro sind deutliche Anklänge an die Ouvertüre der "Verkauften Braut" zu hören.

(Anmerkung: Nikolaus Harnoncourt wird auch diese böhmische "Tanzoper" - fast jede Nummer ist eine Polka, ein Walzer oder ein Landler - bei der Styriarte 2010 aufführen, und zwar in deutscher Sprache. Man darf gespannt sein!)

 

Großartig ging es auch am nächsten Tag im niederösterreichischen Grafenegg weiter. Nach der obligatorischen Sommernachtsgala fand hier das echte Eröffnungskonzert mit den Niederösterreichischen Tonkünstlern statt: Dirigent Michail Jurowski und der Spitzenklasse-Pianist Alexander Melnikov zelebrierten ein russisches Programm.

Zuerst wurde Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2. in c-moll in einer Weltklasseaufführung dargeboten. Melnikov spielte das hochkomplexe Werk so souverän, als übte er eine leichte Etüde. Der junge Russe machte einen wahren Klangzauber daraus. Sein Piano war derart berührend, daß sogar die Vögel beim Wolkenturm begeistert zwitscherten - einen solch schönen Dialog zwischen Natur und Musik hört man sowieso nur in Grafenegg. Dank Jurowskis Einsatz war auch das Orchester sehr bemüht, dem exzessiven Piano zu folgen. Melnikov bekam dann auch den verdienten Applaus und bedankte sich rechtzeitig beim zweiten Verbeugen mit einer Zugabe ("rechtzeitig", weil sich das Grafenegger Publikum ja gern früh zu erheben pflegt ... ).

Nicht ganz so beeindruckend war die von Jurowski zusammengestellte Suite aus fünf russischen Balletten. Hier waren ab und zu mangelnde Präzision und einige "Hoppalas" zu hören; so ging etwa der hübschen Oboistin bei einem raschen Tanz aus dem "Schwanensee" fast die Luft aus. Jurowski band auch ein Werk seines Vaters Wladimir Jurowski ein - aus dem Ballett "Das Purpursegel": plakative, aber wenig mitreißende Musik mit vielen Tschaikowski-Zitaten.

Beendet wurde das Konzert mit Ausschnitten aus den viel zu selten gespielten Werken Aram Chatschaturjans. Die intelligente Auswahl der Musikstücke ließ selbst das anwesende Publikum merken, daß es mehr gibt als den "Säbeltanz". Der durfte aber dann doch nicht fehlen; bei der Zugabe spielte ein hervorragender Schlagwerker auf dem Xylophon, direkt vorm Dirigentenpult.

Auch wenn das Konzert gemischte Gefühle hinterließ: Grafenegg ist immer eine Reise wert - hier kann man Natur und Kultur auf alle Sinne wirken lassen.

 

Apropos "Dresscode": Wen's interessiert, der kann in Grafenegg auch die moderne niederösterreichische Tracht bewundern (bei den Herren wirkt sie ähnlich charmant wie Arbeitsadjustierung). Für alle anderen gilt: Augen zu und durch!

Herbert Hiess

Eröffnungskonzert

ØØØØØ

Styriarte 2010

Leserbewertung: (bewerten)

Friedrich Smetana: Má Vlast

Tondichtung in sechs Teilen

Chamber Orchestra of Europe/Nikolaus Harnoncourt

Links:

Eröffnungskonzert

ØØØ 1/2

Musiksommer Grafenegg 2010

Leserbewertung: (bewerten)

Sergej Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 2 in c-moll op. 18

"Schätze des russischen Balletts": Werke von Tschaikowski, Glasunow, Prokofjew, Chatschaturjan und Wladimir Jurowski

 

Solist: Alexander Melniov (Klavier)

Dirigent: Michail Jurowski

Links:

Kommentare_

Musik
Weihnachtliche Musiktips im Corona-Jahr

Geschenktips für Klassikfreunde

Hören darf man heuer auch ganz ohne Maske. Grund genug für den EVOLVER-Klassikexperten Herbert Hiess, seine Musiktips für die Weihnachtszeit unter den virtuellen Christbaum zu legen.  

Musik
Orchesterkonzert der Wiener Philharmoniker

Seltsame Zeiten

Nicht nur Thomas Angyan, der zukünftige Ex-Chef des Wiener Musikvereins, hätte sich den Abschluß seiner Karriere - ebenso wie Staatsoperndirektor Dominique Meyer - anders vorgestellt. Wie so viele Kulturschaffende gingen beide der angeblichen Pandemie in die Falle.  

Print
Rudolf Buchbinder im Interview

Reise durch den Beethoven-Kosmos

Wer Rudolf Buchbinder ist, braucht man eigentlich niemandem mehr zu erklären. Der sich im 74. Lebensjahr befindende Star-Pianist ist in Kulturkreisen weltweit ein Begriff - und vor allem in Sachen Beethoven eine Kapazität, an der man nicht vorbeigehen kann und darf.  

Musik
Wiederaufnahme in der Berliner Staatsoper

Carmen in der Corona-Krise

Pech oder Schicksal - wie auch immer man es bezeichnen mag: Daß die großartige Berliner "Carmen" schon nach der zweiten Aufführung von Amts wegen gestoppt werden musste, hätte sich niemand gedacht. Jetzt kann man sie wohl einige Zeit nur als Stream oder Aufzeichnung betrachten. Die Staatsoper unter den Linden zeigt mit ihr jedenfalls, daß sie dank ihrer hervorragenden Musiker viele der angeblichen Spitzenhäuser übertrifft.  

Stories
"Der Vorname" in den Kammerspielen

Makabre Wohnzimmerkomödie

Wie Political Correctness als brutale Verlogenheit entlarvbar ist, zeigt das Stück "Der Vorname" des Autorenduos Patellière und Delaporte. Herbert Hiess hat es in den Kammerspielen erlebt.  

Musik
Last-Minute-Ideen für Klassikliebhaber

Weihnachtliche CD-Tips aus Wien

Alle Jahre wieder ... kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch der "Streß", der oft zu Geschenkskäufen in letzter Minute führt. Um Verlegenheitsgaben wie Socken oder Bonbonnieren zu umgehen, hat der EVOLVER-Klassikexperte einige Tips zusammengestellt, die nicht nur eingefleischten Klassikliebhabern Freude bereiten werden.