Musik_Autechre - Quaristice

Popsongs für Synapsen

Zwischenstation Zugänglichkeit? Der neunte Longplayer der Herren Booth und Brown ist in 20 Sound-Miniaturen gegliedert, die man guten Gewissens Popsongs nennen könnte. Na ja, zumindest fast ...    05.03.2008

Wer sich näher mit den Werken Autechres auseinandergesetzt hat, der weiß, daß sich Rob Brown und Sean Booth niemals wiederholen. In diesem Zusammenhang von Konzeptalben zu sprechen, ist dennoch falsch. Wahr ist vielmehr, daß ihren überaus komplexen, mitunter atonalen Klangstrukturen ein selbstbestimmtes Konzept zugrunde liegt. Selbstverständlich weist auch "Quaristice" das für Autechre typische Aufwickeln und Abspulen knisternder Artefakte auf. Doch dieses Mal tritt eine daruntergelagerte Struktur zum ersten Mal in den Vordergrund. Nur um das richtig zu verstehen: Besagte Struktur war von Anfang ("Incunabula") an da, aber eben versteckt, weiter hinten im Mix.

Das Konzept hinter Autechre ist gleichzusetzen mit einer eigenen Sprache, einer Syntax, die einzelne Klänge bzw. Melodiefraktale miteinander kommunizieren läßt. Genau das macht ja das Hören von Autechre so spannend. Die Wahrnehmung dieser "versteckten" Kompositions-Akrobatik passiert konsequenterweise unbewußt. Doch da sich Rob und Sean auf "Quaristice" als digital verbalisierende Sprechmaschinen in ihre "Popsongs" einarbeiten, gelangt man viel leichter zu dieser Schlußfolgerung. Oder, besser gesagt: direkt auf die subkutane Ebene ihrer dialogartigen Strukturen.

Daß Instrumente in einem kompositorischen Rahmen miteinander "sprechen", ist an sich nichts Neues. Vornehmlich ist dieser Kunstgriff aus der klassischen Programm-Musik bekannt. Man denke nur an Mussorgskys/Ravels "Bilder einer Austellung", besonders an das Bild (=Stück) "Samuel Goldenstein und Schmuyle". Der reiche, träge und selbstgerechte Jude Goldenstein wird durch ein mächtiges, hassidisch-arabisch aufgeladenes Kontrabaß-/Cello-Motiv dargestellt, der ihn anbettelnde arme Jude Schmuyle durch drei gestopfte Trompeten, die sein Bettler-Motiv viel schneller skandieren, schnattern, jammern. Bei Mussorgsky/Ravel stehen bestimmte Instrumente für bestimmte Personen respektive Charaktere.

 

Wofür stehen nun Autechres in sich selbst bis ins Unendliche zusammengefaltene Rhythmus- und Melodiekürzel? Könnte man die chemischen Signale unseres Gehirns hörbar machen - und man braucht für dieses kleine Gedankenexperiment gar nicht viel Phantasie -, dann würden sie wohl genauso klingen. Wie hören sich Neuronen an? Wahrscheinlich nach Synapsen, die in einem permanenten antagonistischen Wechselspiel stehen, chemische Kommunikation nonstop. Irgendwie muß Autechres Musik damit etwas zu tun haben, da kaum eine andere Klangwelt unsere Ganglien so direkt massiert und stimuliert, wie es der von Autechre vermag. Somit findet autechresche Kommunikation auf zwei Ebenen statt. Nonlinar und antizyklisch treffen die Sounds innerhalb der Stücke aufeinander (die erste Ebene), wobei stets ein überaus hohes Aktivitätsniveau herrscht. Dieses wiederum überträgt sich beim Hören gleichzeitig auf uns (die zweite Ebene). Unterm Strich: doppelt spannend.

Neu ist auf "Quaristice" die Strukturierung des Albums. 20 Abschnitte in präziser Popsong-Länge sind es geworden. Nicht alle sind rhythmisch, gleich der Opener ("Altibzz") etwa ist eine verträumte, ambiente Keyboard-Ballade - sozusagen, um uns ein wenig in Sicherheit zu wiegen, bevor Autechre ihre Synapsen-Musik auf unsere durch Kommerz und andauernde Nonsens-Informationen malträtierten Gehirne loslassen. Man möge berücksichtigen, daß "Quaristice" - ungeachtet der Tatsache, daß es sich dabei um Autechres bislang zugänglichstes Werk handelt - dennoch viel Konzentration erfordert. Sonst verpaßt man vielleicht noch wichtige Teilchen, Strukturen, Simulakra. Ist dieser kritische Wahrnehmungspunkt erreicht, stellt man nunmehr fest: Alle Elemente ihrer bionischen Elektronik kommunizieren miteinander, so wie unsere Synapsen.

Mit "Quaristice" ist Sean Booth und Rob Brown zweifelsfrei die Quadratur des Neurons gelungen. Es wäre völlig sinnlos, die einzelnen Tracks auseinanderzuklauben, denn nach der allgemeinen Systemtheorie gilt nach wie vor: Das Ganze ist mehr als die Summe der einzelnen Teile.

 

P.S.: Im Rahmen ihrer "Quaristice"-Tour besuchen Autechre auch Österreich. Zu hören und zu sehen werden sie am 13. März in der Postgarage in Graz sein. Als Verstärkung bringen sie die britischen Clicks-and-Cuts-Pioniere snd mit. Skam-DJ Rob Hall rundet den Abend ab.

Ernst Meyer

Autechre - Quaristice

ØØØØØ

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Warp/edel (GB 2008)

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Kommentare_

leiauta - 05.03.2008 : 15.23
Prokofjews "Peter und der Wolf" wäre auch ein schönes Beispiel gewesen :0)

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