Musik_Neues und Altes auf Tonträger

Schmerzliche Abschiede

Claudio Abbados Abgang aus Berlin war für viele schmerzlich; daher ist es umso erfreulicher, daß die Berliner Philharmoniker in Eigenregie dieses Ereignis aufgelegt haben. Das London Symphony Orchestra wiederum verewigte seinen neuen Chef Sir Simon Rattle mit einer wunderbaren Neuaufnahme. Traurig ist Nikolaus Harnoncourts Abschied, weil der Beethoven-Zyklus des Meisters gleich mit der ersten CD enden mußte.    03.03.2016

Das Eigenlabel des London Symphony Orchestras hat bei Musikfreunden schon einen fixen Platz in ihrem Repertoire - so wie viele Eigenproduktionen anderer Orchester auch. Durch die Initiative dieser Orchester haben viele Dirigenten und andere Musiker den großen Labels den Rücken gekehrt, da sie dort nicht mehr die künstlerischen Rahmenbedingungen vorfinden. Dadurch kommen zahlreiche wertvolle Produktionen aus den Archiven der Orchester, die sonst sicher nicht so einfach veröffentlicht worden wären. Ein Beispiel ist die großartige Neuaufnahme von Robert Schumanns "Das Paradies und die Peri", die am 11. Jänner 2015 in London entstand.

Das weltliche Oratorium mit seiner eher sperrigen Handlung handelt von einer Elfe, die über Umwege (gefallener Held usw.) Zugang zum Paradies erhält. Schumann komponierte daraus ein interessantes Werk für sieben Solisten, Chor und großes Orchester mit vielen Chorszenen und virtuosen Soli. Sir Simon Rattle hatte in London nicht nur das hervorragende Symphony Orchestra zur Hand, sondern dazu den großartigen Chor und ebensolche Solisten wie etwa Mark Padmore, Kate Royal und Sally Matthews. Daß die Produktion aufnahmetechnisch bestechend gelang, ist vor allem James Mallison zu verdanken. Seine akustische Handschrift hinterließ er schon auf vielen legendären Tonträgern bei der Decca.

 

Sir Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, ist der Nachfolger Claudio Abbados, der von 1990 bis 2002 die künstlerische Leitung beim deutschen Meisterorchester überhatte. Die Bestellung des Italieners als Orchesterchef wurde von manchen Leuten mit Skepsis betrachtet, denn die Fußstapfen des verstorbenen Ex-Chefs Herbert von Karajan waren unerreichbar groß. Außerdem waren die anderen Aspiranten auf diesen Posten auch nicht zu verachten. Vor allem Lorin Maazel, der eigentlich die bessere Wahl gewesen wäre, hat man mit der eher eigentümlichen Bestellung Abbados so sehr gekränkt, daß er für viele Jahre mit dem Orchester brach. Die Berliner haben offenbar eine gewisse Tradition der skurrilen Chefdirigentenwahl entwickelt, die sie bei der Bestellung von Kirill Petrenko 2015 wieder aufleben ließen.

 Bei seinem Abschiedskonzert im Mai 2013 entführte Abbado die Hörer ins Reich der Phantasie - zuerst in den Wald der Elfen in Mendelssohns Vertonung von Shakespeares "Ein Sommernachtstraum", von dem die meisten Hörer offenbar nur den "Hochzeitsmarsch" kennen. Hier konnte Abbado seine Stärke bei den Lyrismen voll auskosten. Es ist fulminant, wie leicht und luftig schon bei der Ouvertüre die Streicher das Flirren der Elfenflügel nachahmen. Mit Chor und zwei Solistinnen führte der sympathische Maestro durch die berauschende Vertonung der Komödie.

Im zweiten Teil, Berlioz´ "Symphonie Fantastique", wird ein mehr oder weniger erfolgreiches Künstlerleben musikalisch dargestellt. Mit den Berlinern setzte Abbado das Werk des französischen Komponisten in wunderbare Töne um, bei denen vor allem die lyrischen Passagen (z .B . "Scène aux Champs") hervorragend gelangen. Beim "Gang zum Richtplatz" oder beim Finalsatz ("Hexensabbath") würde man sich dann doch mehr Biß wünschen ... vor solchen Hexen und Geistern hätte sich keiner gefürchtet. Doch es war schließlich eines der Charakteristika Abbados, dramatisch nie wirklich voll aufzutrumpfen. Man merkte, daß ihm das Feine, Kammermusikalische viel mehr lag.

Wunderschön ist auch die rote Leinenbox, in der CD und Blu-ray verpackt sind. An einer faksimilierten Prägung seiner Unterschrift, den interessanten Texten und den Bonus-Videosequenzen werden nicht nur Abbado-Fans ihre große Freude haben.

 

Ende 2015 teilte der allgemein verehrte Nikolaus Harnoncourt der Öffentlichkeit mit, daß er sich von den Konzert- und Opernhäusern verabschieden müsse. Sein Gesundheitszustand war in der letzten Zeit nicht mehr stabil, so daß es wahrscheinlich der für ihn richtige Schritt war. Für das Publikum war dies allerdings ein brutaler Einschnitt, da durch Harnoncourts monokratische "Herrschaft" über den Concentus Musicus Wien das Ensemble plötzlich wie ein führerloses Schiff auf hoher See dahintrieb. Als Verlegenheitslösung zauberte man den vielleicht als Chordirigenten brauchbaren (und sonst eher wie ein Hobbydirigent agierenden) Erwin Ortner für ein paar Konzerte aus dem Hut. Den "Fidelio" im Theater an der Wien durfte ein gewisser Stefan Gottfried leiten.

Nikolaus Harnoncourt begann mit seinem Leiborchester Concentus einen Beethoven-Zyklus, dessen erster (und leider letzter) Mitschnitt nun von Sony auf CD herausgebracht wurde. Diese Produktion hätte wahrscheinlich seinen ersten Zyklus mit dem Chamber Orchestra of Europe aus dem Jahre 1993 um Lichtjahre übertroffen. Die beiden mittleren Symphonien Nr. 4 und 5 klingen schroff, prägnant und eindrucksvoll; auch vermeintlich liebliche Klänge werden durch Nebenstimmen "gestört"; die Pauken hämmern die Rhythmen bei der Exposition der Fünften, und gestopfte Hörner quetschen das fast schon abgedroschene "Schicksalsmotiv". Ein sowohl beeindruckendes wie brutales Beethoven-Bild.

Schade, daß der steirische Maestro die Musikwelt in Stich lassen mußte; man darf aber froh sein, daß wenigstens es eine Disc nach draußen geschafft hat.

Herbert Hiess

Robert Schumann - Das Paradies und die Peri

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Ein weltliches Oratorium

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Solisten: Kate Royal, Sally Matthews, Mark Padmore u. a.

 

London Symphony Chorus

London Symphony Orchestra/Sir Simon Rattle

 

Live-Mitschnitt

 

LSO-Live (GB 2015)

Links:

Abschiedskonzert von Claudio Abbado

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Aus der Berliner Philharmonie

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Felix Mendelssohn-Bartholdy: Schauspielmusik zu "Ein Sommernachtstraum"

Hector Berlioz: Symphonie Fantastique

 

Solistinnen: Deborah York, Stella Doufexis

 

Damen des Chors des Bayerischen Rundfunks

Berliner Philharmoniker/Claudio Abbado

 

Live-Mitschnitt vom Mai 2013

 

Berliner Philharmoniker (D 2015)

Links:

Ludwig van Beethoven - Symphonien Nr. 4 und 5

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Live-Mitschnitt

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Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 4 in B-Dur op. 60; Symphonie Nr. 5 in c-moll op. 67

 

Concentus Musicus Wien/Nikolaus Harnoncourt

 

Sony Classical (D 2016)

Links:

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