Print_Andreas Gruber - Todesfrist

Fristenlösung

Können Sie sich noch an den "Struwwelpeter" erinnern? Dieses lehreiche und naturgemäß ziemlich grausame Kinderbuch, das fortschrittliche Pädagogen am liebsten auf den Mond schießen würden? Hier erfahren Sie, was passiert, wenn sich ein ausgewiesener Kenner der Materie und brillanter Thriller-Autor der blutigen Sache annimmt.
   07.08.2012

Der Fahrstuhl fuhr mit einem gleichmäßig surrenden Geräusch in die Tiefe. Die Tür glitt auf, und blasses Neonlicht fiel in die Kabine.

Carmen lief durch die menschenleere Tiefgarage. Wie sie den grauen Beton und das sterile Licht hier unten hasste! Immer wenn ihre Nachtschicht am Montagmorgen um fünf Uhr endete, lag das zweite Untergeschoss in bedrückender Stille. Die Autos hockten wie lauernde Kreaturen im Schatten der Säulen, nur die Motorhauben ragten ins Licht. Kein Mensch weit und breit. Manchmal trieben sich im Keller des Instituts für Pathologie der Wiener Universität Verrückte herum. Sie fragte sich, ob sie eine siebenundvierzigjährige Frau überfallen würden. Stiegen ihre Chancen, in Ruhe gelassen zu werden, mit zunehmendem Alter, oder sanken sie?

 

So beginnt Andreas Grubers aktueller, bei Bertelsmann erschienener Thriller Todesfrist. Und man darf Carmens Chancen, in Ruhe gelassen zu werden, mit bestem Gewisssen bei Null ansetzen. Daß sie allerdings bei lebendigem Leibe in einem Betonblock eingemauert wird (und zwar so, daß sie gerade noch atmen kann sowie zur Nahrungsaufnahme und -abgabe fähig ist), hätte sie sich in ihren grausigsten Träumen nicht auszumalen vermocht. Und das ist erst der Anfang ...

Kurz und gut: Hier treibt wieder einmal ein Serienmörder sein Unwesen, dem es an Kreativität wahrlich nicht mangelt. "Wenn Sie innerhalb von 48 Stunden herausfinden, warum ich diese Frau entführt habe, bleibt sie am Leben. Falls nicht - stirbt sie." Mit dieser Botschaft beginnt das perverse Spiel des in Rätsel und (un)mögliche Lösungen verliebten Killers. Er läßt seine Opfer verhungern, ertränkt sie in Tinte oder umhüllt sie bei lebendigem Leib mit Beton. Verzweifelt sucht die Münchner Kommissarin Sabine Nemez nach einer Erklärung, einem Motiv. Erst als sie einen niederländischen Kollegen hinzuzieht, entdecken sie zumindest ein Muster: Ein altes Kinderbuch, der Struwwelpeter, dient dem Täter als g´schmackige Inspiration - und das birgt bekanntlich noch viele Ideen.

"Nicht schon wieder ein Roman über einen Serienkiller, bitteschön!" ist da vielleicht die allzu verständliche Reaktion einiger, die das hier lesen. Seit Jahrzehnten quillt eine unüberschaubare (und in den meisten Fällen völlig überflüssige) Menge einschlägiger Literatur aus den Regalen der Buchhandlungen, und ein Ende ist auf der nach oben offenen Psycherl-Skala wohl nicht abzusehen. Grubers Todesfrist sollte man sich dennoch antun, weil es sich dabei schlichtweg um einen hervorragenden Thriller handelt, der es schafft, sich den Leser von Anbeginn an zu krallen und wirklich erst auf der letzten Seite ziemlich entkräftet zu entlassen. Der Schreiber dieser Zeilen hat das Buch in zwei Tagen ausgelesen; es ist nahezu unmöglich, es vor seinem bitteren Ende aus der Hand zu legen. Mit einem Ideenreichtum, aus dem andere drei Bücher basteln, baut Gruber ein raffiniertes Konstrukt an Parallelhandlungen und Rückblenden auf, die zum Schluß auf mitreißende Weise zusammenfinden. So (gut) hat man das tatsächlich noch nicht oft gelesen. Allein der Showdown in Wien (Stichwort: Narrenturm!) gehört  zum Fingernägelgefährdendsten, was in den letzten Jahren im Krimi/Thriller-Segment auf den Markt kam. Dazu gesellen sich noch charmante Seitenhiebe auf die Psychotherapie-Manie des frühen 21. Jahrhunderts sowie auf die zum Teil mafiösen Praktiken des - nicht nur deutschsprachigen - Buchhandelswesens im Zeitalter demokratisch verbrämter Konzerndiktatur.  

War Grubers voriger Roman Rachesommer - vor allem in der Schilderung der Protagonisten - ein wenig glatt und berechenbar (wiewohl spannend), so läßt der Autor diesmal Charaktere aufeinandertreffen, die Ecken und Kanten, eben Persönlichkeit besitzen (und das, ohne in einen an Tatort oder Schlimmeres gemahnenden Befindlichkeitskitsch zu kippen). Die Figur des niederländischen Ermittlers Marteen S. Sneijder etwa böte Stoff für eine eigene Story (oder gleich eine ganze Serie).

Der Gänsehautfaktor von Todesfrist ist auf jeden Fall enorm. Damit hat sich der Österreicher Gruber wohl endgültig in die Pole-Position internationaler Thrillerautoren eingeschrieben. Und es ist neben seinem bisherigen Meisterstück - der Lovecraft-Hommage Der Judas-Schrein, die klarerweise eher im Bereich des übernatürlichen Horrors anzusiedeln ist - der (nicht nur stilistisch) beste Roman, den der Autor bis dato veröffentlicht hat.

Zudem liefert er den im wahrsten Sinne stichhaltigen Beweis ab, daß man von blutrünstigen Kinderbüchern wirklich was fürs Leben lernen kann.

Thomas Fröhlich

Andreas Gruber - Todesfrist

ØØØØØ

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Club Bertelsmann (D 2012)

 

(Foto: Michael Adam)

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