Print_Hunter S. Thompson - Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten

Unsterblicher Kettenraucher

Neues von Hunter: Der große Gonzo-Literat hat uns vieles hinterlassen - vom Wissen, daß Journalismus wie Rock´n´Roll funktionieren kann, über den Hang zu einer ungesunden Lebensweise bis hin zur Sehnsucht nach der heutzutage fast völlig verschwundenen Kultur des Briefeschreibens. Eine neue Kollektion zeigt, wie gut Thompson auch dieses Genre beherrschte.    18.02.2015

Die Edition Tiamat erfüllt für die heutige kritische Intelligenz eine ähnliche Aufgabe wie früher die Edition Suhrkamp für die Pseudo-Intelligenz der 1960er- und 70er Jahre. Das ermöglicht - dank der geistig-moralischen Wende - natürlich keine Bestseller mehr.

Seit Jahren beackert Verleger Klaus Bittermann, ein Kämpfer gegen "Literatur, die die Ausstrahlung von Birkenstockschuhen hat", nun schon das Œuvre von Hunter S. Thompson. Dank seines Engagements (und das des Heyne-Verlags) ist das umfangreiche Werk von Hunter heute weitgehend auch in deutscher Sprache zugänglich. Thompsons Einfluß auf den Journalismus im besonderen und auf Teile der zeitgenössischen Literatur im allgemeinen kann gar nicht überschätzt werden. Was als Gonzo-Journalismus in die Literaturgeschichte eingegangen ist, gehört nach wie vor zu den interessantesten literarischen Strategien, um Realität virtuell erfahrbar zu machen. Hunter hat eindrucksvoll bewiesen, daß eine subjektive Herangehensweise dem Leser objektive Erkenntnisse vermitteln kann. Damit steht er in der Tradition der Beat-Literaten, weil er aus Literatur und Rock´n´Roll eine literarische Synthese schuf.

 

 

Bisher war Bittermanns Verlag für qualitativ hochwertige Paperbacks bekannt; nun hat er - meines Wissens erstmalig - ein qualitativ hochwertiges Hardcover veröffentlicht (als Band 222 der Reihe "Critica Diabolis"). Der würdige Anlaß dafür ist eine umfangreiche Auswahl aus den Briefen von Hunter. Im Waschzettel zu dem voluminösen Band heißt es: "Über 20.000 Briefe sind es, die Thompson in seinem Leben verfaßt und an prominente Zeitgenossen von Tom Wolfe bis Jimmy Carter verschickt hat; an Freunde, Feinde und Familie ... Sie bilden nicht nur eine Chronik der jüngeren amerikanischen Gegenkultur; es sind seine Memoiren ... eine Autobiographie als Live-Mittschnitt."

Für Leute, die beim Lesen nicht die Lippen bewegen, ist dieser Prachtband schon jetzt eines der Bücher der Saison. Jede der 606 Seiten ist ihr Geld wert. In diesem Monat wird man für 28 Euro nichts Besseres bekommen, das die Gehirnsynapsen fröhlicher zum Klingeln bringt.

Am besten gefällt mir Hunter, wenn er in seinen gnadenlosen Analysen so richtig schön polemisch und wütend wird:

"Wenn auch nur die Hälfte der Geschichten über Big Sur stimmt, hätte der Ort längst ins Meer abrutschen müssen; und es wären dabei so viele Wahnsinnige und Degenerierte ertrunken, daß eine Schiffsbrücke aus Körpern entstanden wäre, die bis nach Honolulu reichen würde. Die Vibrationen all der Orgien hätten die gesamte Bergkette von Santa Lucia zum Einsturz gebracht und die Zerstörung von Sodom und Gomorrha wie das kleinliche Werk eines Geizkragens aussehen lassen. An den westlichen Ausläufern würde das Land schlicht das Gewicht all der Sexfanatiker und Kriminellen, die hier angeblich leben, nicht tragen können. Die Erde selbst würde sich auftun und vor Ekel würgen - und über die langen steinigen Böschungen würde eine gespenstischer Armada aus Nudisten, Schwulen, Junkies, Vergewaltigern, Künstlern, Flüchtlingen, Vagabunden, Dieben, Verrückten, Sadisten, Eremiten und jedem erdenklichen menschlichen Abschaum herab steigen. Die alle würden samt und sonders sterben - und, wenn es gerecht zuginge, würde es einer Armee von Touristen und Schaulustigen genauso ergehen." (S. 122)

 

 

"Lesen Sie diese Briefe - aber, um Gottes willen, geben Sie diesem Mann niemals Ihre Telefonnummer." (Johnny Depp)

PS: Ein dickes Lob auch an Wolfgang Farkas für die Übersetzung, die nicht einfach ist und selbst einen Literaten verlangt.

Martin Compart

Hunter S. Thompson - Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten

ØØØØ

Leserbewertung: (bewerten)

Es war ein brutales Leben, und ich habe es geliebt.
Gonzo-Briefe 1958-1976
Herausgegeben von Douglas Brinkley
Critica Diabolis 222

 

Edition Tiamat (D 2015)

Links:

Der König ist tot. Lang lebe der König!

Nachruf: Hunter S. Thompson


Der EVOLVER-Nachruf auf den König des Gonzo-Journalismus

Links:

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