Print_Max Winter - Expeditionen ins dunkelste Wien

Von Strizzis, Strottern und Sacklpickern

Als Sandler oder Zuhälter verkleidet erkundete der Autor das Wien der Jahrhundertwende - und schrieb Reportagen, die unter anderem an Schauplätzen wie der Kanalisation spielen.    11.01.2007

Schon mal von einem "Strotter" gehört? Dabei handelt es sich nicht um eine seltene Tierart, sondern um einen Broterwerb, mit dem sich die Ärmsten der Armen im Wien um 1900 über Wasser hielten. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Ein Strotter lief kilometerlang durch die engen und niedrigen Gänge der Wiener Kanalisation, um Knochen, Fett und Metall aus dem menschlichen Unrat zu fischen und an die Industrie zu verscherbeln.

Dies ist eines der vielen verborgenen Kapitel der Alltagsgeschichte, die ohne den Journalisten und "Wallraff-Vorläufer" Max Winter heute vergessen wären. Der nämlich machte sich mit einem Strotter auf die ebenso kräfteraubende wie die Geruchsnerven strapazierende "Schlieftour". Rund 50 Strotter gab es damals in Wien und selbst innerhalb dieser Menschengruppe noch Abstufungen der Verzweiflung - und so etwas wie Solidarität. Der "Specklmoriz", mit dem Winter für seine ausführliche Reportage unterwegs ist, hat sich auf Kreuzerstücke und Altmetall spezialisiert. Knochenstücke verschmäht er, legt sie aber sichtbar hin, um dem nächsten die Suche zu erleichtern. Ausbeute nach vier Stunden Strottgang: "Zwölf Kreuzer, an Heller, an ganzen und an halben Zinnlöffel, an Wasserleitungsschlüss´l" und einige Champignons, die im Kanal wuchsen.

Was seinen Lebensweg angeht, war Max Winter ein typisches Kind der zu Ende gehenden Monarchie. 1870 im ungarischen Tárnok geboren, begann er 1895 unter Victor Adler bei der "Arbeiter-Zeitung" als Gerichtsreporter. Bald schon machte er sich einen Namen als Meister der sozialen Reportage. Winter ließ sich in der Verkleidung eines Obdachlosen einsperren, erkundete die Strizzi-Szene, arbeitete als Statist in der Hofoper, als Kulissenschieber im Burgtheater oder als Lohnschreiber in einer Kolportageromanfabrik.

Dabei zeigte er neben unglaublichem Fleiß - sein journalistisches Werk zählt rund 1500 Reportagen - auch sozialistisch geprägtes Sendungsbewußtsein. Sozialer Voyeurismus (gegenwärtig in Mode: "Slumming") war ihm fremd. Winter beschrieb Mißstände, um zu ihrer Aufhebung beizutragen. Damals träumte man noch allen Ernstes von einer Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände. Bis zu einem gewissen Grad scheint diese geglückt. Wenigstens sieht man heute keine Menschen mehr durch die Wiener Kanalisation schlurfen.

So "nebenbei" war der Journalist sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichsrat, Wiener Gemeinderat und von 1919 bis 1920 sogar Vizebürgermeister. Die "Kinderfreunde", denen er zehn Jahre lang als Bundesobmann vorstand, hat er mitbegründet. Winters Leben endete in den 30ern wie das so vieler Menschen, die es gewagt haben, in einer politisch bewegten Zeit Engagement zu zeigen: Flucht in die USA, erfolglose Versuche, als Drehbuchautor in Hollywood Fuß zu fassen, einsamer Tod.

Ein Picus-Sammelband vereint nun 17 der besten Reportagen Max Winters, die ein etwas anderes Bild des Wiens der Jahrhundertwende zeichnen - fernab von Kaffeehaus-Literatentum und verschnörkeltem Jugendstil. Ein Glossar erleichtert die Lektüre der auch sprachlich - gerade in den Dialogen - wirklichkeitsnah gestalteten Texte. Und auch wenn sich die Verhältnisse geändert haben mögen, in einer auf "Return on Investment" und Rendite fixierten Welt hat er doch wieder Gültigkeit, jener Satz eines der Porträtierten im Buch: "So is´s in der Welt, wer si wirkl plagt und d´ganze Arbeit macht, kriagt nix, und der andere, was zuaschaut, all´s."

Reinhard Ebner

Max Winter - Expeditionen ins dunkelste Wien

ØØØØ


Picus (Wien 2006)

 

Links:

Kommentare_

Mag. Günther Leeb - 20.08.2007 : 17.15
... eine hervorragende Ideen, die Texte Max Winters neu herauszugeben. Man lernt eine Menge über die sozialen Verhältnisse, über Wohnen, Arbeiten und Alltag der Zeit der Entstehung der Kinderfreunde ...

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