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Schmauchspuren #29

Wenn über den Casinos der Mond aufgeht, wenn in Irland Landfahrer und Schwäne dahingemetzelt werden und wenn im Hinterland des Wahnsinns Blut fließt - ja, dann ist Peter Hiess als Krimileser live dabei.    16.07.2014

Peter Hiess

Joseph Wambaugh - Tod im Zwiebelfeld

Bastei-Lübbe Tb. 2010

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Anfang der Sixties, Los Angeles, dunkelstes Amerika: Zwei junge Polizisten der Hollywood Division stürzen in eine schicksalshafte Nacht. Nur einer überlebt sie, der andere kommt psychisch schwer geschädigt davon, wird die Ereignisse bis ans Lebensende nicht verwinden. Joseph Wambaugh hat den Tatsachenroman Tod im Zwiebelfeld ähnlich angelegt wie Truman Capote sein berühmtestes Werk Kaltblütig. Er schildert Leben und Charakter der Opfer und der Täter, läßt aber keinen Zweifel daran, wem seine Sympathien gelten. Schließlich war Wambaugh, ohne den es den Polizeiroman in seiner jetzigen Form nicht geben würde, selbst einmal Polizist in L. A. Die zwei Burschen, die praktisch ohne Motiv die Beamten entführen und einen von ihnen ermorden, sind Abschaum, Soziopathen, ohne jedes Gewissen. Und sie entwickeln sich nach der Tat zu im Gefängnis juristisch ausgebildetem Abschaum, der sich die in den 60er Jahren entstandene totale Perversion des amerikanischen Rechtssystems in einem Jahre dauernden Prozeß zunutze macht, um der Todesstrafe zu entgehen. Ein zu Recht legendäres Werk.

Ach ja: James Ellroy hat das Vorwort zur Neuausgabe geschrieben - das übliche Gefasel von ermordeter Mutter, Alkoholismus, harter Kerl, Demon Dog etc. Kann man auch auslassen.

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Guido Rohm - Blut ist ein Fluss

Seeling 2010

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Noch tiefer in den Alptraum, wahrscheinlich wieder USA, aber in Wahrheit das reale Grauen in unseren Köpfen. Guido Rohm lädt in seinem Romanerstling Blut ist ein Fluss zu einer düsteren Reise durch die tiefste Provinz, wo ein jugendlicher Serienmörder und ein legitimer Nachfahre von Jim Thompsons Lou Ford (Marke: Psychopath mit Sheriffstern) eine öde, zerfallende Landschaft unsicher machen, irgendwo am Fluß, irgendwann vor dem großen Regen, irgendwie zwischen Alkoholismus und Wahnsinn. Und dieser deprimierend blutige Plot ist in Wahrheit (also im Buch) der des neuen Romans von Tom Torn, einem Noir-Krimi-Kultautor aus den Staaten, der selbst mit seinen Dämonen und tollwütigen Fans zu kämpfen hat. Man muß Rohm nicht nur für die Konsequenz bewundern, mit der er seine verschachtelten Welten und Realitätsebenen konstruiert, sondern auch für diese existentialistische Thriller-Phantasie selbst, die in manchen Momenten an den leider fast vergessenen Film Das Messer am Ufer erinnert. Geheimtip der Saison, auf jeden Fall.

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Time for Hardcase Crime


E. Howard Hunt - House Dick

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2009

 

Peter Blauner - Casino Moon

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2009

 

An der Pulp-Front der nach wie vor großartigen Reihe Hard Case Crime werden diesmal zwei US-Städte porträtiert: Washington D. C. und Atlantic City. In der Hauptstadt handelt der Roman House Dick, in dem Autor E. Howard Hunt (ja, genau: der Watergate-Einbrecher und CIA-Agent) 1961 ein paar Tage und Nächte im Leben eines Hoteldetektivs beschrieb. Mord, Juwelendiebstahl, Drogen, kleine Gauner, ein hartnäckiger Bulle, eine Femme fatale - und ein Protagonist, der in etwa so unsympathisch wirkt wie Hunt selbst (oder das, was man von ihm aus Interviews kennt). Trotzdem ein nett-schmutziger kleiner Krimi.

Ein wahrhaft großes Werk hingegen ist das 1994 erstmals erschienene Casino Moon von Peter Blauner. Die Story des Anthony Russo, Ziehsohn eines Mafia-Capos in der Glücksspielstadt Atlantic City und mit der Nichte des Oberbosses verheiratet, ist so ausweglos wie schweißtreibend spannend. Anthony will keine Karriere im Mob machen, sondern es selbst zu etwas bringen; er beschließt daher, das Comeback eines abgehalfterten Boxers zu managen und zu finanzieren. Nebenbei wird trotzdem noch ordentlich gemordet, gehurt und gestohlen, weil man der Familie nicht so einfach entkommt ... Blauner schildert die Welt der amerikanischen Cosa Nostra, der Gangster und Killer, der Stripperinnen und Mafia-Frauen bis hinunter zu kleinen Nebencharakteren so glaubhaft, daß man sich mitten in den Sopranos wähnt - nur kamen die später und waren garantiert auch von diesem wunderbaren Roman inspiriert.

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Ken Bruen - Jack Taylor liegt falsch

Atrium 2010

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Was wissen wir über die Iren? Richtig, sie sind melancholisch und katholisch, belesen und betrunken - und hart, aber herzlich. Es scheint kaum möglich, daß ein ganzes Volk sich diesem Klischee unterordnet; fest steht aber, daß die international erfolgreichen irischen Krimiautoren hundertprozentig auf dieser Verkaufsschiene fahren. Das gilt auch für Ken Bruen, dessen Jack Taylor liegt falsch (zweiter Teil der Serie um den Exbullen und Privatdetektiv) in der Reihe "Irish Crime" erscheint, symbiotisch übersetzt von Harry Rowohlt und naturgemäß genau nach Plan: Alkoholexzesse, angereichert mit Koks und Speed, gefährliche Männer mit weichen Herzen, Morde an ungeliebten Landfahrern, zutiefst übermenschliche Menschlichkeit allerorten, zahllose Zitate aus wichtigen Büchern, willige junge Mädchen (mit viiiiiiiieel Herz) und eine gescheite Londoner Ehefrau, die gleich wieder aus Galway abfährt. Liest sich zwar trotz allem gut und schnell, ist aber bei weitem nicht so genial und wichtig, wie das Feuilleton das gern hätte.

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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