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Schmauchspuren #40

Aus der Abteilung "Lesen wir immer wieder gern": zwei Beispiele für brauchbaren Nachschub, ein Meta-Thriller für den denkenden Pulp-Fan, eine bunte Enttäuschung und ein wahres Meisterwerk. Peter Hiess war wieder kriminell unterwegs.    26.11.2014

Peter Hiess

Ken Bruen - Jack Taylor und der verlorene Sohn

Atrium Pb. 2011

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Wie die katholische Geistlichkeit vor lauter Kinderschänden überhaupt noch dazu kommt, Messen zu lesen und Sakramente zu erteilen, ist eine Frage, die sich auch der Krimileser stellen muß. Die Polit- und Medienkampagne gegen die pösen, pösen Pfaffen (eine Institution, die dem globalen Verbrecherkapitalismus noch im Weg ist) hat nämlich längst auf das Genre übergegriffen. Und so wird auch in Ken Bruens "Jack Taylor und der verlorene Sohn", dem fünften Band der Reihe, quer durch die Christenheit traumatisiert: der Ermittler, frisch aus der Nervenheilanstalt und dem Alkohol entwöhnt; seine Polizistenfreundin, schwer gestört und ein harter Kern in einer harten Schale; ein Nachwuchsdetektiv, der im Protagonisten väterliche Gefühle weckt; ein Pfarrer, dessen abgetrennter Kopf im Beichtstuhl gefunden wird; eine ganze Menge der üblichen pittoresk-liebenswert-ach-wie-irischen gescheiterten Existenzen; ein Star-Übersetzer, dessen Stimme lauter zu hören ist als die des Autors ... Gehört das noch zum Buch? Ja, das gehört noch zum Buch. Bruen kriegt man nicht ohne Rowohlt. Wer das schätzt, wird auch dieses Buch schätzen.

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James Rollins - Das Flammenzeichen

Blanvalet 2011

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Eilt man allerdings lieber mit den schundigen "Wissenschafts-Agenten" der SIGMA-Force rund um die Welt, dann ist man mit "Das Flammenzeichen", dem neuen Action-History-Hi-Tech–Verschwörungs-Flughafen-Thriller aus der Textverarbeitung von James Rollins, besser bedient. Diesmal geht es um den "Doomsday"-Saatgutbunker auf Spitzbergen, eine alte Prophezeiung über den letzten Papst, einen irren Industriellen und eine hinterhältige Geheimorganisation, die beide nach Weltherrschaft und Bevölkerungsreduktion streben, um geheime Gewölbe, explodierende Sümpfe, wehrhafte Klöster usw. usf. Unterhaltsam. Read and forget.

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Monika Geier - Müllers Morde

Ariadne/Argument Tb. 2011

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Niemals vergessen sollte man allerdings, daß Monika Geier die derzeit wohl beste deutschsprachige Krimiautorin ist - was sie nach der mehr als gelungenen Reihe um Kriminalkommissarin Bettina Boll auch mit ihrem neuen Buch "Müllers Morde" unter Beweis stellt. Die verschlungene Story dreht sich um den Umweltmanager eines Energiekonzerns, der auf absurd-mysteriöse Weise zu Tode kommt; einen Ermittler wider Willen (Richard Romanoff, Alternativen-Anti-AKW-Abkömmling und Privathistoriker; den Mann wird man sich merken müssen); einen gar nicht unsympathischen Täter mit lange Zeit undurchschaubaren Motiven, der perfekt in unsere Gegenwart paßt; sowie zahlreiche Nebenfiguren, die bis in den letzten Nebensatz lebensecht und glaubwürdig wirken. Auf fast 400 Seiten zeigt Geier, daß sie sich bestens auf popkulturelle Anspielungen ("die Kuh Elsa") versteht, spannende Showdowns ebenso gut inszenieren kann wie hintergründige Kritik am blöden Spiel mit den Emissionszertifikaten - und auch nicht vor einem höchst erfreulichen literarischen Cameo für ihre Fans zurückschreckt. Einer der Kriminalromane der Saison. Mindestens.

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Jasper Fforde - Grau

Eichborn 2011

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Und jetzt fragen Sie sich möglicherweise, was der Phantast Jasper Fforde in dieser Kolumne verloren hat ... Nun denn: Schon seine Jurisfiktions-Ermittlerin Thursday Next war ja stets mit der Klärung von Verbrechen befaßt, die zwar "nur" in Büchern stattfanden, aber umso unterhaltsamer waren. Der neue Held des Walisers heißt Eddie Russett und lebt auf einer Erde der fernen Zukunft, wo es ebenfalls Morde und Verschwörungen gibt. Unglücklicherweise hat sich Fforde in "Grau" aber so sehr in die Beschreibung seiner skurrilen Welt mit ihren Einwohnern, die nur bestimmte Farben sehen können, ihrer lähmenden Diktatur der Stagnation und ihren unzähligen seltsamen Details verliebt, daß ihm kaum noch Platz für die Entwicklung des Protagonisten oder eines plausiblen Plots blieb. (In dieselbe Falle ging übrigens auch China Miéville mit seinem total überschätzten Werk "Die Stadt und die Stadt".) Da sehnt man sich doch gleich wieder nach dem nächsten Dienstag.

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Guido Rohm - Blutschneise

Seeling Pb. 2011

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Wenn schon Metafiktion, dann bitte so, wie sie Guido Rohm betreibt. Der läßt seinem gelungenen Romandebüt "Blut ist ein Fluss" jetzt mit "Blutschneise" einen Krimi nachfolgen, der so hart erzählt ist wie die härtesten Ami-Thriller in Willeford/Thompson/Spillane-Tradition, damit wieder einiges über die Welt sagt, in der wir alle leben müssen, und gekonnt mit Realitätsebenen spielt, ohne je gekünstelt oder postmodern-ironisch daherzukommen. Rohms Protagonist Max Vonderscheid ist nicht einmal ein Antiheld, sondern ein reuloser Soziopath, den nur die Lust am Töten treibt. Doch es gibt Abstufungen des Grauens: Maxs "Kunden", drei gelangweilte Millionäre und Hobby-Serienmörder, sind ebenso wie seine Auftraggeber und Kollegen derart üble Charaktere, daß man ihnen als Leser nur das Schlechteste wünscht - und kaum merkt, daß man damit in dieselbe blutige Schneise rutscht wie die Romanfiguren. Es wird ein böses Erwachen geben.

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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