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Schmauchspuren #51

Tony Soprano ist tot. Und unser Krimiexperte Peter Hiess fühlt sich auch schon ziemlich müde. Deshalb hat er eine Lesepause eingelegt und sich vor den Fernseher gesetzt - um Ihnen die besten einschlägigen Serien der letzten paar Jahre zu präsentieren.    13.04.2016

Wer Kriminelles nicht nur gern liest, sondern auch (in fiktionaler Form) betrachtet, weiß längst, daß er nicht mehr ins Kino zu gehen braucht. Dort werden nämlich - vor allem bei Streifen aus den USA - immer nur dieselben Plots wiedergekäut, wenn man nicht gleich vor dem x-ten Remake sitzt, das in der ursprünglichen Version sowieso besser war. Die Lösung des Problems liegt A. in asiatischen Genrefilmen auf DVD und B. im Fernsehen.

Die legendäre Serie "Homicide" aus den 90er Jahren war nur der Anfang. Seit es Kabelsender wie HBO gibt, die selbst Programm machen, haben packende Serien mit Hirn und Witz einen Aufschwung erlebt, wie Fans von "Breaking Bad" längst wissen. Und die Plots der neuen Krimi-Highlights sind oft viel besser (und natürlich ausführlicher) als das meiste, was man so auf dem deutschsprachigen Krimimarkt zu lesen/sehen kriegt. Vergessen Sie also "Tatort", "SOKO Mistelbach" & Co.! Legen Sie sich lieber ein paar DVD-Boxen und die passende Begleitlektüre zu, um einen coolen Krimisommer zu verbringen.

 

 

 

Familie ist alles. Das weiß auch Tony Soprano – und es gilt nicht nur für die verwöhnte, gestörte und teilweise bösartige Verwandtschaft daheim, sondern auch für seine kriminelle "Familie". Mr. Soprano ist zwar offiziell als Chef einer Müllentsorgungsfirma tätig, leitet aber in Wahrheit die Mafia-Filiale in New Jersey. Und da beide Sippen jede Menge Probleme mit sich bringen, von Beziehungsdramen bis zu Mordanschlägen, braucht er eine Psychiaterin. 86 Folgen reines HBO-TV-Vergnügen in sechs Staffeln, mit dem großartigen und im Juni dieses Jahres viel zu früh verstorbenen James Gandolfini in der Hauptrolle. Schon seinetwegen lohnt sich das (Wieder-)Ansehen.

Die Lektüre des kaum mehr als 100 Seiten starken Erklärgeschwafels "The Sopranos" (Diaphanes) vom postmodernen, politisch überkorrekten Obergscheitl und Ex-SPEX-Chefredakteur Diedrich Diederichsen kann man sich hingegen ersparen. Da ist man mit Artie Buccos amüsantem "The Sopranos Family Cookbook" (Grand Central Publishing) eindeutig besser dran, auch in kulinarischer Hinsicht.

 

"Ein Balzac für unsere Zeit" schwärmte das deutsche Feuilleton - aber das muß noch nichts Schlechtes heißen. "The Wire" (60 Episoden, 5 Staffeln, wieder HBO) ist trotzdem gut. Die in Baltimore spielende Polizeiserie aus der Feder von Kriminalreporter David "Homicide" Simon überzeugt nicht nur durch phantastische Schauspieler und eine äußerst komplexe Handlung, bei der normale Vorabendseher sofort aussteigen, sondern auch durch ihren sozialen Realismus, der zeigt, wie es in US-Großstädten heute wirklich zugeht.

Vor "The Wire" haben Simon und sein Mitautor Ed Burns bereits im Drogenmilieu von Baltimore recherchiert – die daraus resultierende, spannende Reportage heißt "The Corner. Bericht aus dem dunklen Herzen der amerikanischen Stadt" (Kunstmann) und ist mehr als lesenswert. Wer etwas über die Medienwelt und ihre Darstellung urbaner Überlebensstrategien erfahren will, liest die Essaysammlung "The Wire. Urban Decay and American Television" (hrsg. von Tiffany Potter & C. W. Marshall; Continuum) und staunt darüber, wie sehr sich die Welt verändert hat.

 

 

Staunen wird man auch beim Anschauen von "The Shield" (88 geniale Folgen in 7 Staffeln, diesmal vom Sender FX). Und zwar darüber, wie schnell man nach dem ersten Schock - korrupter Polizist erschießt einen Kollegen von der Internen Revision - seine Sympathien auf den Bösen überträgt. Doch das geht ganz einfach, wenn dieser Antiheld vom glatzköpfigen Kampfzwerg Michael Chiklis gespielt wird, der mit seinem Sondereinsatzteam vom LAPD nicht nur die Ghetto-Kriminalität meisterhaft bekämpft, sondern auch keiner Versuchung ausweicht und sich möglichst viel illegalen Besitz anzueignen versucht. Die Schlinge zieht sich von Staffel zu Staffel (u. a. in Gestalt von Glenn Close und Forest Whitaker) enger um diesen "Bad Detective" Vic Mackey zusammen, und man hält ihm fieberhaft bis zum Schluß die Daumen. Wie das alles endet, das müssen Sie unbedingt selbst herausfinden - diesmal ganz ohne Begleitbücher.

 

In die kriminelle Vergangenheit der US-Spielerstadt Atlantic City führt die HBO-Serie "Boardwalk Empire" (bisher 3 Staffeln zu je 12 Episoden), deren erste Folge immerhin von Martin Scorsese - der auch als Produzent auftritt - inszeniert wurde. Die Story spielt während der Prohibitionszeit in den USA, als der Bezirkskämmerer der Stadt, Enoch "Nucky" Thompson (wie immer großartig: Steve Buscemi), und seine Geschäftspartner in dunklen Hinterzimmern beschließen, mit dem Verkauf illegalen Fusels reich zu werden und immer mehr Macht anzuhäufen. Und das geht natürlich nicht ohne gemeine Morde, Verstrickungen und Verwicklungen: manchmal etwas langsam inszeniert, aber nicht ohne Charme.

Als Lesestoff zu diesem "ongoing" Sittendrama sei das der Serie zugrundeliegende Buch von Nelson Johnson empfohlen, der in "Boardwalk Empire: Aufstieg und Fall von Atlantic City" (Heyne) die Karriere des realen Politgangsters Enoch Johnson schildert. Wer gern erklärt kriegt, was er gesehen hat, kann sich auch den "total inoffiziellen" Führer zur Serie von John Wallace, "The Boardwalk Empire A–Z" (Blake Pub.) zulegen. Macht eindeutig Lust auf mehr.

Peter Hiess

"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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