Fragen Sie einen Finnen nach den drei wichtigsten Erfindungen seines Landes. Er würde lächeln und antworten: "Fraglos die Sauna, renommiert das Nokia-Telefon und niveauvoll der Tango." Ihre Wahrnehmung ist nicht getrübt, wenn Sie dieses Statement bezweifeln: Natürlich ist der Tango keine finnische Erfindung, was aber keinen der finnischen Tango-Enthusiasten stört.

Tangoinfektion

Der lateinamerikanische Tanz und die Mentalität von Nordeuropäern scheinen diametral auseinander zu stehen. Liebe, Temperament und Leidenschaft, all das vermutet man genau so wenig in Finnland wie Protagonisten vom Phänotyp eines Antonio Banderas oder einer Carmen. Gerade deswegen lieben die Finnen wohl ihren Tango so. Als in den Jahren nach 1910 der romantische und anmutige Tanz aus Argentinien nach Europa schwappte, fanden sie ihren Gefallen an ihm. Allzu gut konnte man dieses exotische Kulturprodukt adaptieren, die eigenen Wünsche und Unnahbarkeiten in ihm aufgehen lassen und ein Stück neuer, eigener Identität aufbauen. Die Grundlagen waren vorhanden. Finnland ist ein Land mit der Fähigkeit, kollektive Traurigkeit - besser noch: Melancholie - authentisch zu leben. Immerhin scheint die Sonne zwischen Ostsee und dem Polarkreis in einigen Monaten des Jahres nur für ein bis zwei Stunden, dazu trinken die Finnen eine Menge und überdies haben sie als Exoten unter den Skandinaviern eine handfeste slawische Tradition. Nun haben sie den Tango Argentìn nicht einfach und unkommentiert übernommen, dazu war ihre kulturelle Identität schon immer viel zu stark ausgeprägt. Sie haben den Tanz verlangsamt, die Gangart auf nachvollziehbare 2/4- und 4/4-Takte gestellt und ihre eigenen, finnischen Texte dazu beigesteuert.


Chance 2. Weltkrieg

Seinen Durchbruch erlebte der "Suomeksi Tango" im zweiten Weltkrieg, der auch in Finnland viele Familien trennte und rudimentäre Schicksalsfragen hoch oben auf der Alltags-Agenda platzierte. "Kohtalon", das Schicksal, wurde nun immer häufiger besungen, und die Szene bekam ihre Stars, darunter einen gewissen Olavi Virta. "Darum bin ich traurig", sang dieser Herr, der Peter Falk alias Columbo wie aus dem Gesicht geschnitten war, für das kleine Volk im Jahre 1944, als es müde vom Krieg gegen die Russen war. Genau solche Fragen wollten die Finnen in den Lyrics ihrer Tangoschwelgereien erörtert sehen. Sie tanzten zu transzendentalen Eingeständnissen ihrer Schüchternheit, und niemals wurde ein finnischer Tango auf textlicher Ebene vermessen oder reißerisch. Bis heute steht die Bescheidenheit und eine gewisse zartbehütete Melancholie auf dem Programm. Selbstverständlich spielte auch die Liebe eine große Rolle, als der Tango nach den Kriegszeiten insbesondere auf dem Lande eine neue Blüte erlebte. Trennung, Schmerz und Tod, das alleine durfte nicht mehr Schicksal bedeuten, jetzt wurde der Tanz zum Ventil für überschüssige Pathetik. In jedem Dorf wurde eine Tango-Disco eröffnet, und langsam entwickelte sich der finnische Tango zu einem Teil des nationalen Kulturerbes. Längst waren die Geschichte und die südamerikanische Herkunft verblasst, die Finnen hatten mit ihren schlurfenden Tanzschritten und den - mehr als Notwendigkeit angesehenen - punktuellen Berührungen der Tanzpartnerin ihren ganz eigenen Tanz geschaffen. Aber sie tanzten, und das mußte schon als emotionaler Ausbruch gesehen werden. Aki Kaurismäki sagte einmal, daß seiner Meinung nach der Tango ein entscheidender Katalysator für die Stabilisierung der finnischen Bevölkerungszahl angesehen werden müßte. In einem derart dünn besiedelten Land müßte es schließlich schon einen guten Grund für die Menschen auf dem Lande geben, Samstagsabends zusammenzukommen und dafür weite Wege in Kauf zu nehmen.

Die sechziger und siebziger Jahre standen unter dem Einfluß der Hoffnung in die Tangos Finnlands. Träume, spontanes Glücksempfinden und zunehmend eine humoreske Note bereicherten die vormals ausschließlich nachdenklichen Texte. Mit dem zunehmenden Wohlstand der Menschen kam also auch ein gewisser optimistischer Grundton in die vorher nur Schwarz-, Grau- und Dunkelblautöne umfassende Farbpalette. Gleichzeitig setzte jedoch auch die Landflucht ein, und ein Großteil der Bevölkerung zog in Städte wie Helsinki oder Turku. Plötzlich hieß es nicht mehr "Tule tanssimaan!" (Laß uns tanzen!), sondern "Onetwothreefour...". Die Beat-, Rock- und Poprevolution ging auch an Finnland nicht spurlos vorbei, die jüngeren Semester funktionierten Garagen zu Tanzhöllen um, und in den alten Tangoschuppen tanzten die älteren zu keimfreier Schlagermusik.

Einäjoki - das finnische Tangowoodstock

Jetzt sind wir beim Tango von heute angekommen, dem finnischen selbstredend, und es ist wohl ganz klar, daß er schnöde Schlagerkonkurrenz vertrug. Heute ist der finnische Tango wichtiger denn je. Das schlägt sich in internationalem Interesse an der Szene nieder, in Plattenverkäufen und bei "Mega-Events". Alljährlich findet das größte Tangofestival der Welt im Nordwesten Finnlands statt, der Tangomarkt in Seinäjoki. Seit seiner Gründung vor gut fünfzehn Jahren hat sich die Teilnehmerzahl verzehnfacht, in diesem Juni nahmen 170.000 Tangofans teil. Die ganze Stadt ist während des Tangomarktes mit Ständen versehen und mit kleinen Bühnen. Überall treten Sänger und Combos auf, und aus scheinbar unauffälligen Passanten werden spätestens beim dritten Takt versierte Tanzpaare. Das staatliche Fernsehen überträgt die Veranstaltung an manchen Tagen unterunterbrochen, also von 10.00 Uhr morgens bis 04.00 Uhr nachts, und dann sitzen zweieinhalb Millionen Finnen vor dem Fernseher. Solche Quoten (etwa die Hälfte der Bevölkerung) sind in Österreich oder Deutschland nicht einmal zu Olympischen Spielen oder während einer Fußball-Weltmeisterschaft denkbar. Dabei ist der Vergleich durchaus angemessen, Seinäjoki hat tatsächlich etwas von einer Sportveranstaltung. Die Pärchen, die den Tangomarkt besuchen, tragen allzu oft Jogginganzüge und fahren jedes Jahr mit den aktualisierten T-Shirts der Marke "Ich war dabei..." wieder heim. Das mag ekelhaft und kommerziell wirken, es gehört aber auch zu den liebenswürdigen Besonderheiten Finnlands, daß das "gemeine Volk" sich eben massenhaft für so etwas Ausgefallenes wie Tango begeistert.

Finnischen Tango kennenlernen

Um sich ein valides Bild von den Spielarten und Ausprägungen des finnischen Tangos zu machen, ist eine Compilation aus dem Hause Trikont sehr zu empfehlen. Die 1998 erschienene CD heißt "Tule tanssimaan!" und beinhaltet insgesamt 24 Stücke aus den Jahren 1915 bis 1998. Unter ihnen sind alle Stars, wie Olavi Virta, Eino Grön, Henry Theel oder ein gewisser M. A. Numminen. Letzterer verdient besondere Aufmerksamkeit, denn er ist der Avantgardist unter den Sängern. Numminen, ein studierter Soziologe aus der finnischen Provinz, steht in der Tradition der Leningrad Cowboys und kultiviert ein provokantes Nicht-Können. "Ich mit meiner Braut im Parlamentspark" zitiert er auf Deutsch Kurt Weill, und nicht nur wegen des finnischen Akzentes ist dieser Beitrag ein Highlight sowohl auf "Tule Tanssimaan" als auch auf seiner ebenfalls auf Trikont erschienenen Solo-Compilation "Dägä, Dägä". Während finnische Intellektuelle Numminen den gesunden Menschenverstand absprechen, ist er als eine Mischung von Helge Schneider, Christoph Schlingensief und eben den Cowboys ein virtuoser Interpret, der eben auch vor Kakophonien nicht haltmacht. Wirklich kennenlernen kann man den finnischen Tango nur, wenn man sich nach Helsinki oder Seinäjoki bemüht und einen Samstagabend in einer der unzähligen Tangodiscos verbringt. Dort hat man obendrein die beste Gelegenheit, mit den etwas scheueren Finnen jenseits der 50 ins Gespräch zu kommen. Seien Sie sich sicher: Solche Gespräche lohnen sich!



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(Paul Lenz, 20.10.2004 15:47)