Wir leben im Paradies. Aber auch dort können sich gelegentlich kleine Unfälle ereignen - meint Sylvia Treudl.

Wir leben auf einem glücklichen Stern, in einem liebevollen Universum. Güte, Vertrauen und Wohlwollen machen die Basis aus, auf der die Welt im Urvertrauen ruhen kann wie eine Perle im Seidenfutteral. Wir kümmern uns um unsere Regenwälder, die wir so sehr lieben, daß wir sie in Form von Mahagonistreichhölzern stets mit uns herumtragen. Unsere Tierhaltung ist so vorbildlich, daß Schweine und Rinder nach einem langen, glücklichen Leben voller Anmut, Poesie und Freiheit von sich aus und mit einem verklärten Lächeln unter die sanfte Hand eines gnädigen Schlächters schlüpfen. Das ist der Dank der Tiere für die Behandlung, die wir ihnen angedeihen lassen – sie wiederum ernähren uns gütesiegelverbindlich und gesundheitsförderlich mit ihrem naturbelassenen Fleisch. Unsere Waidmänner sind die letzten Mohikaner, die sich bei jedem Mountainbiker, den sie zum Zwecke der Überlebenssicherung für sich und ihre Lieben erschießen, bedanken. Und sie knallen stets nur so viele ab, wie sie wirklich dringend benötigen.

Unsere Atomkraftwerke zeichnen sich nicht nur durch ihre atemberaubende architektonische Schönheit aus, sie produzieren auch in absolut friedvoller Ambition und eingebettet in ultimative Sicherheit Energie, die so clean ist, wie unsere Flüsse und Seen sauber sind. Unseren Tourismus lenken wir mit Umsicht und Sensibilität, und es ist nicht der schnöde Mammon, der die treibende Kraft beim Schlägern von Nadelbäumen und Zubetonieren von Wiesen darstellt, sondern das Bestreben, die Menschen, die uns besuchen, an der Schönheit und Majestät unserer Landschaft Anteil nehmen zu lassen.

Unsere Strafvollzugsanstalten sind Stätten der inneren Einkehr, wo die Gestrauchelten Mitleid und Hilfe erfahren, unterstützt von einer unabhängigen und gerechten Justiz. In den Familien herrscht für alle Mitglieder das Prinzip der Parität auf sämtlichen Ebenen, jeder/r darf sich seinen/ihren Talenten und Neigungen entsprechend in harmonischer, liebevoller Atmosphäre entfalten. In unsern Schulen wird Wert auf individuelle Förderung der jungen Heranzubildenden gelegt, unabhängig davon, ob die Qualitäten der/des einzelnen im musischen, technischen oder naturwissenschaftlichen Bereich liegen.

Besonderes Augenmerk legen wir auch auf die Künste, die wir als unverzichtbares Regulativ und kritische Instanz für das Funktionieren und die Bereicherung unseres Gemeinwesens betrachten. Unser soziales Gewissen zeichnet sich durch einen hohen Grad von moralischem Verantwortungsgefühl aus und richtet sich besonders auf diejenigen aus, die der Unterstützung bedürfen. Handel und Gewerbe sind in beispielhafter Weise darauf bedacht, notwendige Bedürfnisse zu befriedigen, anstatt eine seltsame Art von Konsumwahn zu erwecken. Unsere Freizeitkultur trägt zu intellektueller und humanistischer Weiterentwicklung bei, woran besonders die Print- und E-Medienkultur wesentlichen Anteil hat.

Unser politisches System wird von Männern und Frauen repräsentiert, die in selbstloser und rückhaltlos integrer Weise die Interessen der BürgerInnen vertreten. Besonderes Lob verdient in diesem Kontext auch die noble Manier, in der inhaltliche Diskussionen auf der Sachebene geführt werden. Die Einführung eines Mahn- und Gedenktages an die finsteren Zeiten, in denen skrupellose Individuen den Dienst an Staat und Menschen dazu mißbrauchten, ihrer Macht- und Geldgier, ihren dogmatischen und gefährlichen Zielen Raum zu geben, stellt nur eine marginale Geste im Rahmen dieses Spiels der freien und fair verteilten Kräfte dar.

Wir haben, nach Jahrtausenden des Irrens und Fehlens an Mensch, Tier und Natur, endlich begriffen und das Paradies, das Rad und den tiefen Suppenteller neu erfunden. Die Welt ist endlich glücklich, und eine weiße Taube scheißt Ölzweige über das gesamte Erdenrund.

Vor ein paar Tagen hat sich eine Tankerkatastophe vor Galapagos ereignet - das passiert halt auch im Paradies. Andererseits, wer braucht schon Robbenkolonien und Pelikane? Und die Schildkröten dort sind eh schon steinalt gewesen...

Wir legen also sanft lächelnd die Hände um die Konsole unseres Flatscreen, lecken uns die Lippen und freuen uns darauf, daß "Taxi Orange" von "Girlscamp" abgelöst wird.



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Bravo!
(Anonym, 06.03.2006 11:04)