Stories_Berlinale 2005/Journal I

Afrika und Daumenlutscher

"Fußball, Sex und Politik" hatte Berlinale-Chef Kosslick als große Themen der 55. Berliner Filmfestspiele angekündigt. Stattdessen dominierte in den ersten Tagen Pathos.    14.02.2005

Denselben zeigte bereits der Eröffnungsfilm der Festspiele zur Genüge: Regis Wargniers "Man to Man" erzählt die Geschichte zweier zentralafrikanischer Pygmäen, die 1870 aus ihrer Heimat entführt und nach England verschleppt werden. Dort sollen sie der Forschung dienen und werden schließlich sogar im Zoo ausgestellt. Das Anliegen von "Man to Man" ist durchaus ehrenwert, der Appell gegen Rassismus und unbändigen Forschungsdrang wird klar herausgearbeitet. Doch als Film ist dieses Werk schlicht uninteressant: Die Figuren sind schablonenhaft gezeichnet, die Story ist schlecht strukturiert, und der Topos des edlen Wilden wird über alle Maßen strapaziert. Das Ganze wird zudem zugekleistert von einem unerträglich kitschigen Score, der alle noch mögliche Dramatik nicht etwa verstärkt, sondern abtötet.

Ein anderer Film mit Afrika-Thematik macht es besser: "Hotel Rwanda" handelt vom Völkermord der Hutu an den Tutsi in Ruanda 1994 – und hier hätte es wahrlich Anlaß zur Überdramatisierung gegeben, immerhin wurde in dieser Zeit in nur 100 Tagen eine Million Menschen umgebracht. Doch Regisseur Terry George (bekannt z.B. als Drehbuchautor von "Im Namen des Vaters") tappt nicht in die Falle, die Gräuel dieser Zeit möglichst drastisch darstellen zu wollen. Vielmehr konzentriert er sich auf eine wahre Geschichte, und zwar die von Paul Rusesabagina (gespielt von Don Cheadle). Der Hotelmanager, selbst Hutu, nahm über 1200 Flüchtlinge in sein Hotel auf und rettete ihnen damit das Leben. Eine Art "Schindlers Liste" im Afrika-Kontext, könnte man sagen. Doch der Film kommt weitgehend ohne Spielberg’schen Zuckerguß aus und ist mit einigen Ausnahmen recht zurückgenommen inszeniert. Die Massaker werden nur angedeutet, alles andere bleibt der Fantasie der Zuschauer überlassen, was umso wirkungsvoller ist. Denn die Grausamkeit der Vorgänge spiegelt sich überdeutlich in den vor Angst erstarrten Gesichtern der Flüchtlinge sowie von Paul und seiner Familie. Paul Rusesabagina selbst fungierte als Berater für den Film, der hier außer Konkurrenz läuft und für drei Oscars nominiert ist.

 

Der dritte Film mit Schauplatz Afrika, den es in den ersten Berlinale-Tagen zu sehen gab, läßt politische und soziale Probleme im Gegensatz dazu weitgehend außen vor: In "Les Temps qui Changent" ("Changing Times") von André Téchiné versucht eine Gruppe Menschen, mit den Themen Liebe, Besitzansprüchen, Freundschaft und Entfremdung zurechtzukommen. Der Schauplatz des Geschehens ist Tanger. Hier lebt Cécile (Catherine Deneuve) mit ihrer Familie, und hierher ist nach dreißig Jahren Trennung nun auch ihre alte Jugendliebe Antoine (Gerard Depardieu) gereist, um seine einstige Flamme zurückzuerobern. Parallel zu diesem Erzählstrang werden außerdem die Probleme von Céciles Sohn Samy (Malik Zidi) geschildert, der hin- und herschwankt zwischen seiner Leidenschaft für den jungen Bilal (Nadem Rachati) und seinem Verantwortungsgefühl für die alleinerziehende Mutter Nadia (Lubna Azaba). Diese wiederum ist aus Paris nach Marokko gereist, um nach sechs Jahren ihre immer noch in Tanger lebende Zwillingsschwester wiederzusehen – die sich der Wiederbegegnung jedoch verweigert. Téchiné verknüpft die einzelnen Erzählstränge ebenso locker wie kunstvoll, wobei sich immer wieder Parallelen zwischen den einzelnen Konstellationen ergeben. Potenziell wuchtige Themen wie Tod, Auferstehung, Selbstaufgabe und die ganz große Liebe werden unaufdringlich und fast nebenher behandelt – so daß es sich durchaus empfiehlt, den Film mehr als einmal anzuschauen. "Les Temps qui Changent" ist als einer der Favoriten in die Berlinale gegangen, und hätte sicherlich auch den einen oder anderen Bären verdient. Zumal die Protagonistin Cécile hier eine Frage aufwirft, die sich die Autorin dieses Textes bei der Sicht anderer Berlinale-Filme ebenfalls gestellt hatte: "Muß eine Frau wirklich immer irgendwelche Opfer erbringen?"

Cécile ist nicht dieser Ansicht, ebenso wenig wie die Autorin. Die Macher der Wettbewerbsfilme "Asylum" und "Provincia Meccanica" ("Smalltown Italy") aber offenbar schon. In "Asylum" verliebt sich eine Arztgattin (Natasha Richardson) in einen Frauenmörder, der in der Psychiatrie sitzt, und versucht für diese Liebe den gesellschaftlichen Konventionen, die sie umgeben, zu entkommen – was für sie in Wahnsinn und Tod endet. Der wirkliche Wahnsinn hier ist aber eher, daß uns dieser Tod dann auch noch als Sieg verkauft werden soll. Die Moral: Entweder man (bzw. frau) ist Opfer der Gesellschaft, oder man opfert sich eben selbst. Ähnlich sieht es bei "Provincia Meccanica" aus: Der Ehefrau und Mutter Silvia (Valentina Cervi) wird ihre Tochter unter dem Vorwurf mangelnder Fürsorge weggenommen. Silvias Reaktion: Erst schließt sie sich wochenlang in ihrem Zimmer ein, dann verführt sie unvermittelt einen Freund ihres Mannes. Die Erklärung von Schauspielerin Cervi für diese Handlungsweise ihrer Figur: Sie versuche, tatsächlich Schuld auf sich zu laden, damit sie die Bestrafung durch die Gesellschaft besser annehmen kann. Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen, außer, daß diese zwei Filme ebenfalls zu der Sorte "Pathos mit Sahne" gehören.

 

Viel erfreulicher hingegen war unerwarteterweise das Teenager- und Familiendrama "Thumbsucker". Hier geht es um den 17-jährigen Justin (Lou Pucci), der immer noch am Daumen lutscht und seine Eltern (Vincent D`Onofrio, Tilda Swinton) damit wahnsinnig macht. Erst als sein esoterischer Zahnarzt (Keanu Reeves) ihn unter Hypnose setzt, schafft er es, der Sucht zu entsagen – braucht zum Ausgleich dann aber Tabletten, Sex, Gras ... bis er dann doch noch zu sich selbst findet. An sich keine großartige Story, aber Justins Geschichte des Erwachsenwerdens wird mit viel Humor und Anteilnahme erzählt und ist dazu auch noch sehr gut besetzt (jawohl, sogar Keanu Reeves bekommt seine Rolle ausnahmsweise gut in den Griff!).

Positiv ist auch der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag "One Day in Europe" einzuschätzen. Während eines fiktiven Champions-League-Spiels werden in vier verschiedenen europäischen Städten Touristen in einen Diebstahl verwickelt. Mal fingieren sie die Tat nur, um die Versicherung abzuzocken, mal werden sie tatsächlich bestohlen. Alle jedoch leiden unter Kommunikationsschwierigkeiten im fremden Land und machen unliebsame Erfahrungen mit der Polizei – sei es nun in Moskau, Istanbul, Santiago de Campostela oder Berlin. Regisseur Hannes Stöhr ("Berlin is in Germany") hat mit seinem Film durchaus ein ernsthaftes Anliegen: So ist er laut eigener Aussage auf der Suche nach einem "European Way of Life", im Gegensatz zu dem vielbeschworenen amerikanischen, und möchte hier eine Utopie eines durch verschiedene Elemente geeinten Europas zeigen. Das klingt nach einem schwerfälligen und theorielastigen Film, aber das Gegenteil ist der Fall: Stöhr hat sein Werk sehr leicht und liebenswert gestaltet, mit viel Sinn für Situationskomik. Dabei greift er zwar oft zu gängigen Klischees über die einzelnen Länder, doch nicht, ohne diese ebenfalls humorvoll zu hinterfragen. Der Film funktioniert auf diese Weise hervorragend - was zeigt: Wer eine Botschaft hat, muß sie nicht unbedingt mit tränenreichen Todesszenen in Szene setzen. Ein Fußballspiel und ein paar gestohlene Koffer tun`s manchmal auch.

Anne Herskind

Berlinale 2005

55. Internationale Filmfestspiele Berlin


Berlin, 10. - 20. Februar 2005

 

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