Stories_Berlinale 2006/Journal I

Die Macht der Träume

Erstes Fazit der 56. Berlinale: Träume sind keinesfalls Schäume. Die Vermischung von Traum und Realität, virtuelle Welten, die zu Alpträumen werden – zentrale Themen dieses Festivals.    13.02.2006

The Science of Sleep, so heißt zum Beispiel Michel Gondrys ("Vergiß mein nicht") neuer Film, der außer Konkurrenz im Wettbewerb läuft. Der Protagonist, Stéphane (Gael Garcia Bernal) widmet der Gestaltung seines Schlafes bzw. seiner Träume deutlich mehr Energie und Phantasie als der Bewältigung seines Alltags. So hat er sich in seiner Traumwelt, die er bis zu einem gewissen Punkt kontrollieren kann, ein richtiges Fernsehstudio eingerichtet, in dem er mit viel Witz und Liebe zum Detail seine virtuellen Zuschauer unterhält, in der Realität hingegen schläft er in seinem alten Kinderbett. Als er sich in seine Nachbarin Stéphanie (Charlotte Gainsbourg) verliebt, verschmelzen Traum und Realität zusehens, bis er selbst nicht mehr zwischen beidem unterscheiden kann – und dem Zuschauer dies auch immer schwerer fällt. Stéphanes Dilemma inszeniert Gondry, wie von ihm gewohnt, mit viel Phantasie, sehr verspielt und voll von verschrobenem Humor – wobei die "Realität" oft noch absurder ausfällt als die Träume.

 

Von heiterer Verspieltheit kann hingegen bei Strange Circus, dem Forumsbeitrag des japischen Regisseurs Sion Sono, nicht im Geringsten die Rede sein. Um Träume geht es hierallerdings auch. Und zwar träumt die zwölfjährige Mitsuko (Rie Kuwana) regelmäßig von einem schrillen Zirkus, in dem sie per Guillotine hingerichtet werden soll. In anderen Träumen geht sie blutüberströmt einen roten Flur entlang und sieht im Spiegel nicht sich selbst, sondern ihre Mutter Sayuri (Masumi Miyazaki). Heraufbeschworen wurde das verstörende Traumgeschehen, wie sich bald herausstellt, durch den perversen Vater, der seine Tochter zum einen zwingt, aus einem Cellokasten heraus ihm und seiner Frau beim Sex zuzusehen, zum anderen Mitsuko auch selbst vergewaltigt – und die Mutter dabei zuschauen läßt. Im Laufe der Zeit wird die Mutter zusehens eifersüchtig auf ihre Tochter und zu unguter Letzt kommt es zu einer gewalttätigen Konfrontation, bei der Sayuri stirbt. Oder auch nicht? Ist es vielleicht in Wahrheit die Tochter gewesen, die ums Leben kam? Während der Zuschauer noch über diese Möglichkeit nachsinnt, wird er schon mit dem Sprung auf eine neue Ebene konfrontiert: Die ersten 30 Minuten des Films sind anscheinend einfach der Anfang eines Romans der erfolgreichen Schriftstellerin Taeko (ebenfalls Miyazaki), die selbst aber auch einen gehörigen Knacks weghat, inklusive seltsamer Träume. Und so stellt sich die Frage: Ist wirklich alles Fiktion? Oder ist Taeko vielleicht Mitsuko? Oder vielleicht eher Sayuri? Bis zum Schluß spielt Sono mit verschiedenen Ebenen, dreht und wendet – und dreht und wendet das Geschehen immer nochmal aufs Neue, wobei auch die Ekelschraube immer stärker angezogen wird. Der Japaner ist offensichtlich kein Freund von Subtilität; ganz im Gegenteil bemüht er sich allem Anschein nach, mit seinen Bildern auch noch das allerletzte Tabu zu brechen. Orgien, Inzest, Selbstverstümmelung - immer nur her damit, und möglichst alles in eine Einstellung gepackt! Das Ergebnis ist ein greller, in seiner übersteigerten Symbolik oft auch richtig plumper und auf jeden Fall sehr, sehr blutiger Film, der bei der ersten Vorführung bereits nach kurzer Zeit scharenweise Zuschauer aus dem Saal flüchten ließ.

 

Um einiges zahmer kam da ein weiterer asiatischer Beitrag zum Forum daher: Die indische Dokumentation John & Jane porträtiert sechs junge Leute aus Bombay, die alle im selben Callcenter arbeiten. Der Clou: Glen, Sydney, Osmond, Nikki, Nicholas und Naomi sind ausschließlich für amerikanische Kunden tätig. Während ihrer Nachtschichten sind sie quasi selbst Amerikaner, verkaufen den Kunden Telefontarife oder Kuchenformen, reden über Football und kaltes Wetter, aber wenn sie nachmittags aufwachen, aus dem amerikanischen Traum sozusagen, sind sie wieder Inder, in Indien. Da bleiben Identitätsprobleme natürlich nicht aus. Mit ihrer gespaltenen Welt gehen die sechs jungen Callcenter-Agents allerdings extrem unterschiedlich um: Glen und Sydney sind zum Beispiel komplett frustriert von ihrem stupiden Job und quälen sich regelrecht zur Arbeit. Osmond hingegen hat die amerikanischen Ideale von Erfolg und Unternehmergeist, die den jungen Telefonisten in Schulungen eingeimpft werden, total verinnerlicht und dementsprechend sein ganzes Leben nach möglichst hoher Effizienz durchstrukturiert. Naomi fühlt sich ebensfalls völlig amerikanisiert, mit ihrer aufgehellten Haut, den blonden Haaren und Wimpern, und sie ist stolz darauf. Ihr Traummann sollte so sein wie sie: amerikanisiert und möglichst auch blond, klar, denn: "Blonde ziehen einander ja an". Ein großes Verdienst dieser Doku ist, daß sie ihre Protagonisten völlig ohne Wertung porträtiert, alle ausführlich zu Wort kommen läßt, ohne sich über ihre teilweise schon abstrus anmutetenden Lebenskonzepte lustig zu machen. Diesem kleinen feinen Film wäre es wirklich zu wünschen, daß er auch einen regulären Kinostart erhält.

 

Um den amerikanischen (Alp-)Traum geht es ebenfalls in Syriana, dem Erdöl-Politthriller von Stephen Gaghan, der außer Konkurrenz im Wettbewerb läuft. Gaghan war für das Drehbuch zu "Traffic" von Steven Soderbergh verantwortlich, und die Parallelen zu dem Drogendrama springen einem geradezu ins Gesicht. Wieder wurden verschiedene Erzählstränge locker miteinander verwoben, wieder geht es um Korruption, das große Geld und die Skrupellosigkeit der Drahtzieher. Dies sind in diesem Fall allerdings nicht die Drogenbosse, sondern amerikanische Ölfirmen sowie die CIA. Mit seiner Kritik am Bush-Amerika ist "Syriana" zweifellos gut gemeint, außerdem handwerklich solide gemacht und mit George Clooney, Matt Damon, Chris Cooper und William Hurt prominent besetzt. Doch irgendwie beschleicht einen hier das Gefühl, nur Selbstverständlichkeiten vorgesetzt zu bekommen. Wirkliche Überraschungen gibt es nicht, man kann sich höchstens in seiner zynischen Weltsicht bestätigt fühlen. Durch die Vielzahl der Charaktere wirken die meisten Nebenfiguren zudem eindimensional und klischeehaft. Insgesamt etwas zu routiniert heruntergespult, das Ganze, aber natürlich schon durchaus ansehbar, vor allem dank Clooneys überzeugender Darstellung des CIA-Agenten Bob Barnes.

 

Die Anfänge des amerikanischen Traums, der zum Alptraum wird, behandelt wiederum Terrence Malicks The New World, ebenfalls außer Konkurrenz im Wettbewerb zu sehen. 1607 legen britische Schiffe in Virginia an, und die Siedler gründen eine erste Kolonie in der Hoffnung auf eine bessere, egalitäre Gesellschaft. Daß diese Utopie in Form des Reiches des Indianerhäuptlings Powhatan bereits Realität ist und durch die Weißen nur zerstört wird, erkennt einzig der Kriegsveteran John Smith (Colin Farrell). Dieser verliebt sich denn auch in Powhatans Tochter Pocahontas (Q´Orianka Kilcher) - mit tragischen Folgen. "The New World" punktet mit wunderschönen Naturaufnahmen des "unberührten" Amerika und einer elliptischen Erzählweise, die das Abgleiten in zuviel Kitsch und Dramatik verhindert. Die einzelnen Szenen wirken häufig nur wie Momentaufnahmen, wie flüchtige Erinnerungen der Protagonisten, und so entsteht trotz aller Tragik und Brutalität der Handlung durchweg eine fast traumartige Atmosphäre. Wie sagt doch so schön Smith zu Pocahontas: "Unsere Romanze im Wald erschien mir wie ein Traum, doch jetzt denke ich, das allein ist die Realität." Wobei wir wieder beim Thema wären.

Anne Herskind

Berlinale 2006


56. Internationale Filmfestspiele Berlin

 

Berlin, 9.-19. Februar 2006

 

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