Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #81

Dark Water

Wer braucht schon einen "True Detective", wenn er stattdessen Hochspannendes von Dr. Nachtstrom serviert bekommt? Der Docteur hat sich für Team Rokko mit dem Fall Elisa Lam auseinandergesetzt. Lesen und staunen Sie!    15.05.2015

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.

 

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In der digitalen Bibliothek meines Tablets habe ich inzwischen fast 7000 E-Books gesammelt, die meisten davon in diversen Unterordnern katalogisiert. Einer meiner liebsten Ordner nennt sich DEATH OBSESSION; dort findet sich alles, worüber der Docteur während eines langen Tages (oder einer rauschhaften Nacht) so nachsinniert: tote Rockstars, tote Hollywoodstars (am liebsten die, die ein sehr tragisches Ende gefunden haben), Bücher über Selbstmorde, die Darwin Awards, Werke über auf seltsame Weise verschwundene Menschen und natürlich Verschwörungen, Verschwörungen, Verschwörungen.

 

Seit zwei Jahren mein allerliebster Fall - und noch dazu einer, über den bis dato wenig publiziert wurde - ist der mehr als rätselhafte Tod einer jungen Studentin namens Elisa Lam in einem Hotel in Los Angeles. Das klingt erst mal nicht besonders spektakulär; jeden Tag machen sich irgendwelche Menschen auf dieser Welt zu einem Ziel auf und kommen nicht mehr zurück. Der von uns so erfolgreich verleugnete Sensenmann ist ja die ganze Zeit präsent und setzt seine Sense ein, wann immer ihm danach ist. Die Geschichte von Elisa Lam ist aber dermaßen seltsam und obskur, daß ich sie in diesem Artikel unbedingt erzählen möchte.

 

Der Fall Elisa Lam

 

Im Februar 2013 beschwerten sich mehrere Gäste des Cecil Hotels in Downtown Los Angeles über den seltsamen Geschmack und die seltsame Farbe des Wassers aus den Wasserleitungen der Zimmer. Ein herbeigerufener Installateur stieg auf das Dach, um die dort installierten Wassertanks zu untersuchen, und machte eine furchtbare Entdeckung: In einem der vier großen Behälter schwamm eine bereits halbverweste Leiche.

Die herbeigerufene Polizei identifizierte den Körper als den einer 21jährigen Frau namens Elisa Lam, die vom Hotel bereits mehr als zwei Wochen zuvor als vermißt gemeldet worden war. Die kanadische Studentin hatte im Jänner in das Hotel eingecheckt, war aber seit dem 31. Jänner 2013 nicht mehr aufgetaucht.

Da es besonders schleierhaft erschien, wie der Körper von Lam in einen der mehrere Meter hohen, verschlossenen und schwer zu öffnenden Wassertanks auf einem nur über eine gut versperrte Tür zu erreichenden Dach gelangt war, startete das LAPD seine Untersuchungen und machte auf den Überwachungsvideos des Hotels eine mehr als rätselhafte Entdeckung. Darauf war Elisa Lam am Tag ihres Todes in einem der Lifte zu sehen, wie sie sich sehr seltsam verhielt. Die offenbar verstörte junge Frau versuchte vergeblich, den Aufzug in Gang zu setzen, was ihr nicht gelang, da sich aus unerfindlichen Gründen die Tür nicht schloß; sie probierte sich in einer der Ecken der Kabine zu verstecken; schließlich hüpfte sie aus dem Lift hinaus. Nach einer Minute kam Lam wieder in den Fokus der Kamera - sie schien mit jemandem außerhalb des Lifts zu sprechen, machte mit den Händen seltsame Zeichen.

Nach einem weiteren Versuch, den Aufzug in Gang zu bringen, verschwand Lam aus dem Sichtkreis der Kameras und damit aus der Realität, wie wir sie zu kennen glauben. Die Obduktion und Abgleichung des Todeszeitpunkts mit dem Überwachungsvideo des Hotels ergab, daß sie kurz darauf ihr Ende in einem der Wassertanks auf dem Dach des Hotels gefunden hatte. Wie Lam dort hinaufgelangt war - die Tür zum Dach war verschlossen, und den Schlüssel hatte nur das Wartungspersonal des Hotels, das jedoch durch die polizeiliche Untersuchung von jedem Verdacht freigesprochen wurde - ist ein unlösbares Rätsel.

 

Das Hotel

 

Daß dieses mehr als absurd anmutende Mord-Mysterium in jenem Hotel stattfand, paßt übrigens perfekt in die mehr als sinistre Geschichte des Hauses: 1927 erbaut, nahm das Cecil großen Schaden durch die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre und wurde nach der kurzen Glanzzeit am Beginn sehr schnell zu einer Absteige für Prostituierte, die sich hier billig einmieten konnten. Das mag vielleicht auch die ungewöhnlich hohe Todesrate innerhalb der folgenden Jahrzehnte erklären. Neben zahlreichen Selbstmorden durch Fenstersprung kam es auch zu Vergewaltigungen und Morden.

Die berühmtesten Gäste des Cecil werden auf den zahlreichen "Sightseeing Tours" in den legendären Doppeldecker-Bussen durch Los Angeles gerne erwähnt. In den 1980er Jahren wohnte zum Beispiel der infame "Night Stalker" Richard Ramirez dort. CNN schreibt in einem Artikel: "The Cecil, filled then with hundreds of transients living in the cheap rooms, was a good place for Ramirez to go unnoticed as he killed 13 women. [...] He was just dumping his bloody clothes in the dumpster at the end of his evening and going in the back entrance."

Ein weiterer Serienkiller, der aus Österreich stammende Jack Unterweger, bezog im Jahr 1991 ebenfalls im Cecil Quartier. Offiziell als "Undercover-Journalist" tätig, ermordete er während dieser Zeit mindestens drei Prostituierte. Zeitungen spekulierten nach seiner Verhaftung, daß er wohl "aus Verehrung” für Richard Ramirez im Cecil Hotel gewohnt habe.

 

 

Die Untersuchung

 

Elisa Lam, 21, Tochter eines nach Vancouver immigrierten chinesischen Paars, bezog im Jänner 2013 ein Zimmer im Cecil Hotel. Es war dies eine vermutlich ungeplante Station auf einer Reise, deren Ziel die unauffällige Studentin laut Aussagen ihrer Eltern vage mit "Santa Cruz, Kalifornien" angegeben hatte, wo sie Arbeit (welcher Art ist nicht bekannt) zu finden hoffte. Nachdem sich Lam ab dem 31. Jänner nicht mehr telefonisch bei den Eltern gemeldet hatte, reisten diese voller Sorge nach Los Angeles und baten die Polizei um Hilfe bei der Suche nach ihrer Tochter. Sie schien nach dem genannten Datum verschwunden zu sein, ihr Hotelzimmer war unberührt, auch Abbuchungen oder Telefongespräche wurden nicht mehr verzeichnet.

Die Untersuchungen des LAPD bezüglich der Vergangenheit der jungen Frau ergaben keine hervorstechenden Besonderheiten. Sie hatte mehrmals mit leichten Anfällen von Depressionen zu kämpfen gehabt, aber keine Medikamente oder Drogen eingenommen und sich auch sonst nicht besonders auffällig verhalten. In einem der Einträge auf ihrem Blog fand man ein paar vage Hinweise auf einen "Latino", von dem sie sich "verfolgt" gefühlt hatte, allerdings schon länger vor ihrer Reise; bedenklicher ist dafür eine Postkarte, die Lam kurz vor ihrem Verschwinden an eine Studienkollegin geschickt hatte - mit dem rätselhaften Satz, daß sie "etwas Schockierendes" entdeckt habe. Was genau sie mit dieser Andeutung meinte, wird leider niemals aufgeklärt werden.

Außerdem erwähnte Lam in ihrem Blog, daß sie ihr Handy verloren habe. Darüber hinaus war sie auf dem Überwachungsvideo ohne die Brille zu sehen, die sie sonst ständig trug - alles Indizien, doch weiß man eigentlich nicht einmal, wofür.

In der Zeit zwischen 31. Jänner, also dem Zeitpunkt des Verschwindens von Elisa Lam samt Untersuchung durch das LAPD, und dem 19. Februar (sechs Tage zuvor wurde das Überwachungsvideo veröffentlicht) schwamm der Körper der jungen Frau in einem der Wassertanks des Cecil Hotels - unglaublich, daß erst die vielen Beschwerden der Gäste über Duschwasser mit "schwarzer Farbe" und einem "süßlich-fauligen Geschmack" nach 19 Tagen die Leitung des Hotels dazu bewog, etwas zu unternehmen. Als man den Körper von Elisa Lam schließlich in einem der versperrten Tanks fand, war er schon großteils verwest.

Die Untersuchung des LAPD wurde schließlich nach langem Schweigen im Juni 2013 lapidar unter dem Vermerk "Unfalltod" abgeschlossen. Die offizielle Presseerklärung läßt keinen Zweifel daran, daß die untersuchenden Detectives irgendwie selbst unzufrieden mit den Ergebnissen gewesen sein dürften. USA Today schrieb: "Authorities including police and the coroner have not stated how they believe Lam got into the tank. Law enforcement officials had been careful to say that the death could be accidental, despite widespread public suspicions of foul play."

 

Spekulationen

 

Das läßt viel Raum für Spekulationen und befeuert die Phantasie (und zwar nicht nur die des Schreibers dieser Zeilen). Wenn man die in einschlägigen Foren begonnenen Threads zum Thema Elisa Lam durchforstet, bekommt man da logischerweise sofort die Begriffe "Supernatural”, "Conspiracy”, "Illuminati” etc. um die Ohren gehauen - doch selbst, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich die nüchternen Fakten dieses Todesfalls ansieht, müßte man sogar als eisenharter Skeptiker zugeben, daß sich hier die Seltsamkeiten häufen.

Ein riesiger Streit bei den zahllosen Amateurdetektiven im Internet ist etwa um das Überwachungsvideo entbrannt. Was genau Elisa Lam in diesem Lift tut, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Sie betritt die Kabine, drückt wahllos auf die Knöpfe der verschiedenen Stockwerke (vielleicht der Grund, warum sich die Lifttür nicht schließen will?) versteckt sich zuerst in einer, dann in einer anderen Ecke der Kabine, grimassiert (lächelt?) und springt schließlich wieder aus dem Lift hinaus. Als sie später wieder ins Blickfeld der Kamera kommt, gestikuliert sie, spricht (mit jemandem? mit sich selbst?), um schließlich um die Ecke zu verschwinden.

Wenn nun also keine andere Person auf diesem Video zu sehen war (wir wissen ja nicht, ob aus diesem veröffentlichten Schnipsel eventuell zuvor etwas herauseditiert wurde) bleibt nur mehr die Möglichkeit einer plötzlich auftretenden psychischen Störung, einer Psychose. Normalerweise merkt die Umgebung, daß ein Mensch sich auffällig zu verhalten beginnt, bevor es zu so einem Ausbruch kommt. Im Falle Lam wäre es natürlich möglich, daß dies durch ihre Zurückgezogenheit unentdeckt blieb; das verlorene Handy und die verschwundene Brille wären vielleicht magere Hinweise in eine diffuse Richtung.

Das erklärt natürlich keineswegs, wie die junge Frau nun durch eine mit Alarmsystem versehene, versperrte Tür auf das Dach des Hotels kam, dort einen Wassertank (ebenfalls versperrt) öffnete, sich in Selbstmordabsicht in das Wasser jenes Tanks begab, den großen, schweren Deckel wieder hinter sich zuzog (!) und ihn durch Zauberkräfte wieder von außen verschloß. Bis jetzt gibt es noch keine Theorie, kriminologisch oder verschwörerisch, die diesen mehr als außergewöhnlichen "Unfalltod" auch nur in Ansätzen erklären könnte.

 

 

LAM-ELISA

 

Eine weitere Koinzidenz nach dem Tod von Lam soll dem geneigten Leser hier nicht vorenthalten werden: Kurz nachdem man ihren Körper im Wassertank des Cecil Hotels aufgefunden hatte, gab es anscheinend in dieser Gegend von Los Angeles eine Häufung von Tuberkulosefällen. Der vom Gesundheitsamt der Stadt Los Angeles ausgegebene Fragebogen zu einer möglichen Ansteckung speziell bei HIV-Patienten hieß doch tatsächlich LAM-ELISA: "Clinical Utility of a Commercial LAM-ELISA Assay for TB Diagnosis in HIV-Infected Patients Using Urine and Sputum Samples".

"ELISA" ist laut Wikipedia ein Testverfahren: "The enzyme-linked immunosorbent assay (ELISA) is a test that uses antibodies and color change to identify a substance. ELISA is a popular format of a 'wet-lab' type analytic biochemistryassay that uses a solid-phase enzyme immunoassay (EIA) to detect the presence of a substance, usually an antigen, in a liquid sample or wet sample. The ELISA has been used as a diagnostic tool in medicine and plant pathology, as well as a quality-control check in various industries." "LAM” wiederum ist die Bezeichnung für eine Lungenkrankheit (Lymphangioleiomyomatosis"). 

 

Im Stil und in Anlehnung an das, was der Autor des Artikels als "hochwertige" Verschwörungsliteratur bezeichnet, wird hier bewußt von weiteren Spekulationen Abstand genommen. Zur Lösung des Falls - zumindest in den Köpfen der Neugierigen - können sowieso nur mehr übersinnliche und damit unbeweisbare Theorien herangezogen werden. Da die offiziellen Untersuchungen abgeschlossen sind, der Körper der armen jungen Frau verwest ist und keine weiteren Hinweise auf ein Verbrechen zu erkennen sind, wird der obskure Tod der Elisa Lam für immer eine bizarre Fußnote in den True Crime-Lexika dieser Erde bleiben. Nicht mehr und nicht weniger. Wie heißt es so schön auf dem Filmplakat des Horrorstreifens "Dark Water" (der viele Jahre zuvor bereits eine ähnliche Geschichte von einem toten Mädchen im Wassertank am Dach eines Wohnhauses erzählt hatte): "Some mysteries were never meant to be solved."

 


Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #14


Text: Dr. Nachtstrom

Illustration: Jörg Vogeltanz

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