Stories_Filmfest München 2005

Alle Jahre wieder

Michael Kienzl berichtet über Enttäuschungen und persönliche Höhepunkte des vor kurzem zu Ende gegangenen Münchner Filmfestes.    15.07.2005

Zum 23. Mal bot das jährlich stattfindende Münchner Filmfest in der letzten Juniwoche wieder eine Auswahl an über 200 internationalen Produktionen. Da es in München wie auch bei der Viennale keinen Wettbewerb gibt, werden in den verschiedenen regional unterteilten Sektionen No-Budget-Filme, die nie einen Verleih finden werden, gleichwertig neben Cannes-Preisträgern präsentiert.

Aus Cannes gab es dieses Jahr neben Kim Ki-duks neuem Film Bin Jip und Gus van Sants Last Days - über die letzten Tage eines Kurt-Cobain-ähnlichen Rockstars - unter anderem auch den Gewinner der Goldenen Palme, L´Enfant, zu sehen.

 

Der Film erzählt von Bruno und Sonia, einem mittellosen jungen Pärchen, dessen Beziehung nach der Geburt des gemeinsamen Kindes in die Brüche geht. Um überleben zu können, verscherbelt Bruno auf der Straße illegale Ware und macht dabei auch nicht vor dem Verkauf seines eigenen Kindes halt. Sonia will nach diesem Vorfall nichts mehr mit ihm zu tun haben, und Bruno wird heftig vom Schicksal gebeutelt, bis sich die beiden eines Tages wieder begegnen. Ähnlich wie beim Vorgänger "Der Sohn" setzen die Gebrüder Dardenne wieder auf Handkamerabilder, die fast ausschließlich die beiden Hauptfiguren abfilmen und dabei alle ablenkenden Details ausblenden. Konsequenterweise wird bei dieser Vorgehensweise auch auf begleitende Musik verzichtet. Diese Konzentration auf bestimmte Figuren führt dazu, daß die Handlungen der Personen sogar nachvollziehbar bleiben, wenn sie moralisch fragwürdig sind. "L’Enfant" ist ein dichtes und spannendes Drama, das sämtlichen Versuchungen widersteht, ins Moralische oder Wehleidige abzurutschen.

Neben diesem zu Recht preisgekrönten Streifen gab es in der internationalen Reihe auch zahlreiche Werke junger Filmemacher zu sehen, aus denen besonders das Debüt des erst 24jährigen Thomas Clay herausstach. Der in einem englischen Küstenkaff angesiedelte The Great Ecstasy of Robert Carmichael fängt in endlosen Kamerafahrten flüchtige, aber präzise inszenierte Alltagsmomente dreier gelangweilter Jugendlicher und ihrer Umgebung ein. Das von ausgiebigem Drogenkonsum und sozialem Neid geprägte monotone Leben der mit wenig Sympathie versehenen Protagonisten gerät allmählich aus der Bahn und findet seinen Höhepunkt in der mit ausführlicher Brutalität dargestellten Schlußsequenz. So grausam es auch streckenweise in diesem Film zugeht - durch die formale Künstlichkeit und ironisch distanzierte Perspektive haftet der dargestellten Gewalt immer auch etwas Irreales an.

 

Ein ähnlich degeneriertes Weltbild findet sich auch in Battle in Heaven von Carlos Reygardas. In einem von emotionaler Kälte und Haß durchdrungenen Mexiko City haben der Chauffeur Marcos und seine Frau aus Geldgier das Kind einer bekannten Persönlichkeit gekidnappt. Als es durch einen tragischen Unfall stirbt, wird der introvertierte Marcos von Schuldgefühlen zerfressen und sucht Trost bei der Tochter seines Arbeitgebers, die sich ihre Freizeit mit Gelegenheitsprostitution vertreibt. Nachdem Marcos mehrmals von seiner Frau daran gehindert wird, sich der Polizei zu stellen, verliert er sich in einer religiösen Massenprozession und hofft durch ein selbstauferlegtes Martyrium auf Erlösung. Dank seiner schonungslosen Sichtweise, des Einsatzes von Schauspielern jenseits eines gängigen Schönheitsideals und einer sich immer wieder verweigernden, ungewöhnlich komponierten Bilderwelt ist dieser Film wärmstens zu empfehlen.

Überdurchschnittlich viele Beiträge der lateinamerikanischen Reihe beschäftigten sich dieses Jahr mit einem erweiterten Familienbegriff. Die argentinische Regisseurin Albertina Carri zeigt in Geminis anhand einer inzestuösen Geschwisterbeziehung die bröckelnde Fassade einer bürgerlichen Familie. Die heimlichen Annäherungen der auffällig schönen und gestylten Figuren werden von einer geheimnisvoll schwebenden Kamera wie ein unsichtbarer Voyeur umkreist. Nur langsam und fast unmerklich steuert die Handlung auf den unvermeidlichen dramatischen Höhepunkt vom Ausmaß einer griechischen Tragödie zu. Während die Welt in "Battle in Heaven" abstoßend und pessimistisch gezeichnet ist, tragen die Charaktere in "Geminis" nicht ihre dunklen Seiten nach außen gestülpt, sondern verstecken sie hinter Masken.

 

Im Rahmen des diesjährigen Japan-Schwerpunkts gab es dann auch noch ein erotisches, allerdings nicht mehr ganz taufrisches Schmankerl zu sehen. In seinem "pinku eiga" Tokyo X Erotica beweist Takahisa Zeze erneut, wie sehr man ein Genre an seine Grenzen treiben kann. Unter Einsatz farblich verfremdeter Videobilder werden mehrere Varianten einer tragisch endenden Liebesgeschichte durchgespielt. Noch weitaus experimenteller als in seinem beeindruckenden Dream of Garuda beweist Zeze außerordentliche Kreativität, was sexuelle Praktiken angeht, und schmückt seine verwirrende und kaleidoskopartige Geschichte mit rauschhaften und surrealen Exzessen. Zwar wird es die visuell betörende Ästhetik des Films wohl niemals auf eine heimische Kinoleinwand schaffen, doch ist der Film für Interessierte als englische DVD verfügbar.

Fazit: Wie bei jedem Festival war auch in München wieder der Großteil der Produktionen eher belanglos und durchschnittlich. Umso mehr bleibt zu hoffen, daß wenigstens Filme wie "The Great Ecstasy of Robert Carmichael", "Battle in Heaven" oder "Geminis" eines Tages eine heimische Kinoleinwand erreichen werden und es auch im nächsten Jahr beim Münchner Filmfest wieder einige positive Überraschungen geben wird.

Michael Kienzl

Filmfest München 2005


(25. Juni-2. Juli 2005)

 

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