Stories_Nippon Connection 2007

Der japanische Traum

Auch in ihrer achten Ausgabe bot die "Nippon Connection" in Frankfurt am Main wieder einen umfangreichen, wenn auch nicht repräsentativen Einblick in das aktuelle japanische Filmgeschehen.    14.05.2007

In den Festival-Trailern der vergangenen Jahre konnte man sich davon überzeugen, wie das japanische Kino im Ausland gerne auf bestimmte Genres reduziert wird. Archaische Motive wie ein wütender Godzilla, kämpfende Schulmädchen, rituelle Selbstmorde oder - der jüngsten Mode folgend - ein attraktiver Geist stehen für das Exotische am japanischen Kino und verkaufen sich gerade deshalb gut.

Dabei bewies die "Nippon Connection" schon im Vorjahr, daß es in filmischen Randzonen häufig Interessanteres zu entdecken gibt als in den festgefahrenen Mustern vieler Genrefilme. Die Tendenz zur Abwendung von altbekannten Stereotypen fand sich auch im aktuellen Trailer. Darin formierten sich die rosa, grauen und weißen Linien eines fiktiven U-Bahn-Netzes zwar für kurze Augenblicke zu typischen Postkartenmotiven wie dem Fujiyama oder der Tokioter Skyline, verloren sich aber gleich darauf wieder in der Abstraktion.

 

Wie festgefahrene Vorstellungen mit etwas weniger Greifbarem kombiniert werden, konnte man auch bei der Wahl der Festival-Retrospektive sehen, die dem japanischen Experimentalfilm von den sechziger Jahren bis heute gewidmet war. In fünf Kurzfilmprogrammen wurde zumindest ein kleiner Einblick in die weniger bekannten Werke eines eigentlich sehr fruchtbaren Genres gewährt. Dabei fanden sich zwischen eher unspektakulären Arbeiten, die sich mit typischen inhaltlichen und formalen Fragestellungen des klassischen Experimentalfilms auseinandersetzten, auch einige Schätze wie Toshio Matsumotos Atman aus dem Jahre 1975: Matsumoto platziert darin eine Teufelsfigur aus dem No-Theater inmitten einer weitläufigen Landschaft und umkreist sie aus unterschiedlichen Entfernungen mit der Kamera. Durch die stroboskopisch aneinandergeschnittenen Bilder und den aggressiven elektronischen Soundtrack wird der Film zum Angriff auf den Zuschauer und das Seherlebnis zur körperlichen Erfahrung.

Da sich "Atman" vor allem auf formale Kriterien konzentriert, würde man ihn im Westen ohne weiteres als strukturalistischen Film bezeichnen. Donald Richies Atami Blues, Shuntaro Tanikawas und Toru Takemitsus X sowie Navel and A-Bomb, eine Zusammenarbeit zwischen dem Fotografen Eikoh Hosoe und dem Gründer des Butoh-Tanzes, Tatsumi Hijakata, arbeiten im Gegensatz dazu stärker mit narrativen Elementen, surrealen Szenen und verfremdeten Alltagsbeobachtungen. Besonders "Navel and A-Bomb" (1960) konnte sich mit seiner Verschmelzung von ästhetischen Bildkompositionen, choreographischen Elementen und dem Motiv der zerstörerischen Kraft der Atombombe inmitten zahlreicher anderer Filme behaupten.

Mit der Reihe "Indispensable 8" wurde dem 8mm-Film ein eigenes Programm gewidmet. Das mittlerweile vom Aussterben bedrohte Format nahm in Japan einen besonderen Stellenwert ein, weil Nachwuchsregisseure in universitären Filmklubs verstärkt mit diesem Medium experimentierten. Die Auswahl der Filme war dann doch eher enttäuschend, und man bekam vor allem platte Clip-Ästhetik und die ersten filmischen Gehversuche von Kiyoshi Kurosawa zu sehen. Immerhin wurde mit Takayoshi Otanis New Angels, einem atmosphärischen Schwarzweiß-Trip über ein Mädchen in einem leerstehenden Haus, doch bewiesen, daß man das Format auch im Jahr 2004 noch ästhetisch beeindruckend einsetzen kann.

 

Sowohl "New Angels" als auch ein Film wie "Navel and A-Bomb" sind gute Beispiele dafür, wie im narrativen Experimentalfilm häufig eine Gegenwelt geschaffen wird, in der sich die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischen. Die Koexistenz und das Ineinandergreifen der beiden Ebenen waren in diesem Jahr auch zentrales Thema vieler aktueller Festival-Beiträge von alten Bekannten.

Ein Leinwand-Comeback der besonderen Art gab es etwa mit Masao Adachis erstem Film seit mehr als 30 Jahren. Nachdem er in den sechziger Jahren zusammen mit Koji Wakkamatsu einige agitatorische Pink-Filme gedreht hatte, gab er seine Tätigkeit als Regisseur zunehmend wegen politischer Interessen auf und ging Anfang der siebziger Jahre ins politische Exil in den Libanon. Sein neuer Film The Prisoner ist der surreale Fiebertraum eines Selbstmordattentäters, dessen Handgranate im entscheidenden Moment nicht zündet, woraufhin er den Demütigungen in einem Hochsicherheitsgefängnis ausgesetzt ist. Obwohl es vor aktuellen Bezügen wie Terrorismus und Guantanamo und Anspielungen auf Adachis eigene Biographie nur so wimmelt, verfolgt der Film keineswegs einen sozialkritischen Ansatz. Stattdessen handelt es sich um eine Zusammenstellung geschwätziger Monologe, in denen der Protagonist über seine Rolle als Gefangener reflektiert, inklusive Visionen und Kindheitserinnerungen. Dabei gelingt es dem Film jedoch nicht, die Beschränkungen seines Budgets und des Mediums Video zu seinem Vorteil zu nützen; das pseudophilosophische Gewäsch und die Darsteller, die einer überambitionierten Laientheatergruppe entsprungen scheinen, wirken schnell ermüdend. Daran kann dann auch der mitunter sehr schöne Improvisations-Soundtrack von Yoshihide Ottomo nichts mehr ändern.

 

Bei Shinya Tsukamoto handelt es sich um den wohl bekanntesten Vertreter der weitaus jüngeren Generation von Filmemachern. Mit der starken Präsenz seiner Filme bei der "Nippon Connection" ist er in den vergangenen Jahren zum Festival-Stammgast geworden.

Sein neuer filmischer Streich Nightmare Detective handelt von einem jungen Mann (Ryuhei Matsuda), der in die Träume anderer Menschen eindringen kann und von der Polizei beauftragt wird, einen Serienmörder mit übernatürlichen Fähigkeiten zu überführen. Tsukamoto gelingt es zwar, einen spannenden Mystery-Thriller zu inszenieren, letztendlich bleibt der Film aber eine profillose und auffällig konventionelle Großproduktion eines einstigen Independent-Regisseurs.

Sion Sono ("Suicide Circle"), dessen Ursprünge wie bei Tsukamoto in der unabhängigen Filmszene der achtziger Jahre liegen, war hingegen mit Into a Dream für eines der Highlights des Festivals verantwortlich. In verwackelten und unterbelichteten Videobildern erzählt Sono darin vom Soap-Darsteller Suzuki, der sich eine Geschlechtskrankheit eingefangen hat und daraufhin in eine schwere Identitätskrise stürzt. Immer wieder springt der Film zwischen verschiedenen Realitätsebenen hin und her, in denen Suzuki jeweils eine andere Identität hat und sich die vermeintliche Realität plötzlich als Traum entpuppt. Auch wenn es Sono nicht ganz schafft, das Niveau seines Films durchwegs zu halten, ist ihm mit "Into a Dream" eine absurd-komische Parabel über den Beruf des Schauspielers gelungen.

 

Während "Nightmare Detective" das feindliche Eindringen in die Träume anderer thematisiert und in "Into a Dream" die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit vollends eliminiert werden, präsentiert Satoshi Kon ("Perfect Blue") in seinem neuen Anime Paprika eine trügerisch niedliche Traumwelt, die zunehmend von der Realität Besitz ergreift. Ausgelöst wird dieser Prozeß durch ein Computerprogramm, das sich in fremde Träume einhackt und immer stärker außer Kontrolle gerät. "Paprika" ist ein solide und spannend inszenierter Anime, der durch seinen Zeichenstil, den etwas platten Humor und der Freude am Zitieren diverser filmischer Genres jedoch ein wenig wie das Produkt einer vergangenen Ära wirkt.

Dagegen bewies der kanadische Regisseur Michael Arias mit Tekkonkinkreet, daß man kein Japaner sein muß, um einen erstklassigen Anime zu inszenieren. Unter Einbeziehung aktueller Technologien und mit der Musik von Plaid entwirft die Verfilmung des gleichnamigen Comics von Taiyou Matsumato eine urbane Zukunftsvision, in der sich zwei Waisenkinder gegen einen faschistoiden Technokraten behaupten müssen. Das Ergebnis ist sicherlich einer der spannendsten Animes der letzten Jahre.

 

Im Gegensatz zu Animes, die eher unregelmäßig auf dem Festival laufen, hat es sich mittlerweile eingebürgert, jedes Jahr einen ideenreichen und publikumswirksamen Pink-Film zu zeigen, der das Klischee von Japan als einer Nation skurriler Sexualneurotiker feiert.

Diesmal schafften es sogar gleich zwei davon ins Programm und erweiterten die eindimensionale Sichtweise des Festivals auf das Genre: Uncle´s Paradise handelt von einem dauergeilen Taugenichts, der sich bei seinem Neffen einnistet, bewegt sich zwar auf ähnlich klamaukigem Terrain wie die Filme der Vorjahre, beschäftigt sich neben zwanghaftem Sex und albernen Slapstick-Einlagen aber auch etwas tiefergehender mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Visionen von Riesenoktopussen und ein krönender Aufenthalt in der Hölle befriedigen dann auch sensationsgeilere Ansprüche.

Nikomihoppy wird es hingegen fast zum Verhängnis, daß er sich zu weit von den Konventionen des Pink-Films wegbewegt. Zwar finden sich auch hier wieder auf Lacher angelegte Nebenfiguren, hauptsächlich handelt es sich aber um ein stilles Drama über Verlust und Einsamkeit, in dem die Sexszenen fast wie Fremdkörper wirken. Auch wenn beide Filme keine Meisterwerke des Genres sind, zählten sie definitiv zu den spannenderen Beiträgen des Festivals.

Und so verhielt es sich wie in jedem Jahr: Bei einer reichlichen Filmauswahl gibt es zwischen einigem Schlechtem und viel Durchschnittlichem auch immer wieder Perlen zu entdecken, nach denen man erst einmal suchen muß. Aber genau in dieser Hinsicht unterscheidet sich die "Nippon Connection" überhaupt nicht von anderen Festivals.

Michael Kienzl

Kommentare_

Richard Pyrker - 15.05.2007 : 00.53
Wäre doch auch gern nach Frankfurt gepilgert, das Rahmenprogramm erinnert inzwischen ja fast an Conventions. Übrigens: Paprika und Tekkonkinkreet hatten ihre Österreich-Premiere am 14.April bei der AniGraz (filmASIA) ^^

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