Stories_Lisa Gerrard - The Silver Tree

Die Mutter aller Dinge

Auf ihrem ersten Soloalbum seit zehn Jahren erschafft die Hohepriesterin des Ethno-Gothic den Soundtrack der Soundtracks.    10.05.2007

Die Fans von Lisa Gerrard waren sehr enttäuscht, als weiland die Songparts der Herr der Ringe"-Filmmusik an Konkurrentin Enya ging. Das liegt daran, daß Gerrard in Wahrheit keine lebende Konkurrentin kennt - und genaugenommen auch keine tote. Im Vergleich zu ihr, der ehemaligen Frontfrau von Dead Can Dance, nimmt sich Enya (Ex-Clannad) wie eine semibegabte Epigonin aus, der es vergönnt ist, ausschließlich Versatzstücke diverser US-Mystery-TV-Serien zu einem massenkompatiblen Amalgam zu verarbeiten, das bestenfalls an der Oberfläche "echter" Mythologien kratzt.

Solch schaumgebremstes, weichgekochtes New-Age-Geschwurbel hat eine Lisa Gerrard noch nie interessiert. Die am 12. April 1961 im australischen Melbourne geborene Sängerin wuchs in einer multikulturellen Umgebung auf. Im Stadtteil Prahan wimmelte es nur so von Zuwanderern, und so kam sie schon als Kind reichlich in Kontakt mit griechischer, arabischer, italienischer, irischer und türkischer Musik. Diese Erfahrungen hatten maßgeblichen Einfluß auf ihr gesamtes Œuvre, im besonderen auf spätere Dead-Can-Dance-Alben.

Ob es nun darum ging, spanische Kirchenmusik aus dem 16. Jahrhundert wiederzubeleben ("Aion"), indianische Ritualmusik zu zelebrieren ("Spiritchaser") oder fragile Renaissance-Harmonien auszugraben ("The Mirror Pool") - stets durchdrang Lisa Gerrard die jeweilige Materie mit ihrer Stimme zur Gänze. Seit Jahrhunderten wurden die alten Weisen nicht mit so viel Hingabe und Inbrunst zum Leben erweckt. Was für eine Stimme! Vielzüngig wie das Haupt der Medusa beherrscht die Künstlerin eine stattliche Anzahl Sprachen (unter anderem Gälisch, Arabisch, Aramäisch und natürlich fast alle romanischen). Dadurch klingt ihr Gesang stets authentisch, nie gekünstelt oder gar exaltiert.

Ausgestattet mit einem Oktavumfang wie Ivan Rebroff, besitzt sie zusätzlich noch die Fähigkeit, ihre glasklare Stimme vom Bauch in den Kehlkopf wandern zu lassen. Man erinnere sich nur an "Chant of the Paladin" ("The Serpent´s Egg") und "Saldek" ("Into The Labyrinth"). Diesen Trick, der ihre Stimme von einer Sekunde auf die andere schrill und schneidend wie den Ruf einer Harpye klingen läßt, hört man sonst nur bei weiblichen A-cappella-Gruppen wie den sagenumwobenen Le Mystère des Voix Bulgares.

Doch Lisa Gerrards Lebenswerk besteht nicht nur im originalgetreuen Interpretieren fremdländischen Liedguts aus dem Mittelalter. Es geht ihr auch darum, Strukturen freizulegen und die Harmonielehre zu entdecken, die dem antiken Material zugrundeliegt. Von ihrer manischen Akribie, mit der sie alte Musik der Vergessenheit entreißt, profitierten auch jene Komponisten, die in jüngerer Vergangenheit mit ihr Soundtracks aufnahmen. Pieter Bourke etwa schrieb mit ihr gemeinsam die Musik zu "Ali" und "The Insider"; der Score, den Hans Zimmer mit ihr zu "Gladiator" erarbeitete, brachte Lisa sogar einen wohlverdienten Golden Globe ein.

 

Das nun vorliegende Album "The Silver Tree" wurde schon vor einem Jahr auf iTunes veröffentlicht. Das weltweite Feedback war enorm. So entschied das australische Label Rubber Records, es auch als CD zu veröffentlichen. Während in einschlägigen Chat-Foren darüber diskutiert wird, ob der auf dem Cover angedeutete Cunnillingus zum ästhetischen Prinzip paßt, das Lisa Gerrards Kunst immanent ist, wird das Wesentliche übersehen: "The Silver Tree" ist weniger ein Studioalbum als ein imaginärer Soundtrack.

Noch nie gab sich Gerrard so puristisch. Das einzige Instrument, das über den tiefen Drones, den 3D-Surround-Pools voll ertrinkender Streicher hell zu strahlen vermag, ist ihre Stimme. Auf dem Album fehlen jegliche hochfrequenten Musikinstrumente. Sie verzichtet sogar auf ihr geliebtes Yangqin (chinesisches Hackbrett), ohne das sie nie die Bühne betreten würde. Keine helle Glocke, Triangel, türkische Mizmar oder was auch immer lenken von dem ab, was ihr schon immer das Wichtigste war: the voice. Durch die totale Reduktion, das Beschränken auf das Elementare, kreiert Lisa Gerrard eine magnetische Archaik, die nicht zufällig an Filmmusik von Blockbustern wie "Herr der Ringe", "Die letzte Versuchung Christi" oder "300" erinnert. Sie ist nur viel tiefergehender als all diese Scores zusammen.

Besonders Historien- und Fantasy-Filme fordern die musikalische Erschaffung einer unheimlichen Aura, einen in die Unendlichkeit ziehenden Strudel nach unten gleitender Harmonien - nicht nur, um die Spannung zu heben, sondern auch, um den Zuhörer passend zu den Bildern in vergangene Zeiten zu versetzen. Die dumpf-brodelnden Drones von "In Exile" oder "Shadowhunter" bringen uns in eine Zeit vor der Zeit, als Jerichos Mauern noch standen und in Ägypten gigantische Hörner den Sonnenaufgang willkommen hießen. Oder - noch besser - eine Paralleldimension, in der H. P. Lovecrafts Alte Götter noch auf der ungeborenen Erde wandelten.

Ja, so düster sind die Visionen, die Lisa Gerrard für ihren "Soundtrack" entwirft - erstaunlich für ein derart fragiles Wesen. Doch spätestens, wenn ihre Stimme einsetzt, zerfällt die Vorstellung von der zerbrechlichen Figur zu Staub. An ihre Stelle tritt eine von orthodoxen Kirchen vielfach gefürchtete Vorstellung: Was, wenn die ersten Worte der Welt von einer Frau gekommen wären? Erinnern wir uns: "Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe." Noch bei den alten Griechen tritt Gaia als weiblicher Schöpfergott auf. Selbst in diesem vorreligiösen Kontext ergibt Lisa Gerrards allumfassende Stimme einen Sinn.

Ungeachtet der mannigfaltigen Lesarten bleibt festzuhalten: Die Texte von "Silver Tree" sind eher im alten Orient angesiedelt. Lisa Gerrard nimmt uns an der Hand und geleitet uns zurück in eine Epoche, in der das Menschengeschlecht noch jung war. Aus Chaos wird Eros, und der Mensch entsteht. Egal, ob sie arabisch oder englisch (nur auf "The Valley of the Moon") singt: Wie eine strahlende Sonne erhebt sich ihr Gesang in den Himmel, die vereinzelten tribalistischen Percussion-Einlagen unterstreichen noch zusätzlich den rituellen Charakter der meditativen Stücke. Sogar an einen Song für einen imaginären Abspann hat Lisa Gerrard gedacht: "Space Weaver" würde mit seinen feinen Portishead-Reminiszenzen perfekt dazu passen.

"Silver Tree" nimmt uns mit auf eine Reise zurück zum Anfang, als außer der menschlichen Stimme noch keine Instrumente klangen und nur der kalte Hauch der Äonen unsere nackten Schultern umwehte. Wer starke Nerven hat und sich im Dunkeln nicht fürchtet, dem sei dieses phantastische Werk empfohlen.

Ernst Meyer

Lisa Gerrard - The Silver Tree

ØØØØØ


Subway/Indigo (D 2007)

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