Stories_Neal Stephenson - The Confusion

Es wird wieder "barockt"

Teil 2 des "Barock-Zyklus" steht seit kurzem im amerikanischen Original zur Verfügung. Stefan Becht hat ihn gelesen und erläutert die Hintergründe des SF-Epos.
   17.08.2004

Während wir im deutschsprachigen Raum immer noch recht ungeduldig auf "Quicksilver" - den ersten Band des "Barock-Zyklus" - warten, den der Verlag Random House/Manhattan für September angekündigt hat (mit ca. 1184 Seiten!), eröffnet Fan-Favorit Neal Stephenson den zweiten Band "The Confusion" mit einem Paukenschlag: Jack Shaftoe, der rasende Jack, der vom Londoner Gassenjungen zum sagenumwobenen König der Vagabunden aufstieg, einer der Hauptprotagonisten von "Quicksilver", der dort aber leider bald abhanden kam, ist wieder da. Zwar versklavt und in Ketten gelegt, aber quicklebendig und wie immer mit den coolsten Sprüchen auf den Lippen. Irgendwo an einer afrikanischen Küste erwacht er aus einer Art Delirium und führt uns nach und nach in seine Geschichte ein.

The Confusion liegt in Amerika seit Mitte April vor und wurde dort, wie üblich, mit großem Trara und einem schönen Interview in Stephensons Hauszeitschrift "WIRED" eingeführt. Der (ehemalige) Science-Fiction-Autor, der sich mit Werken wie Snowcrash, Diamond Age und zuletzt Cryptonomicon in die Herzen der Cyberspace-Community schrieb, hielt also bisher sein Versprechen, immer sechs Monate nach dem Erscheinen des Vorgängerbands ein neues Buch abzuliefern. (Folglich müßte der dritte Band des Zyklus, The System of the World, in den USA Ende Oktober/Anfang November dieses Jahres erscheinen.) Damit schreibt sich Neal Stephenson nicht nur gerade in die Annalen der Literaturgeschichte ein, sondern läßt durch diesen strengen Zeitplan offenbar nicht einmal die epische Breite seiner Werke beschränken. Hatte "Quicksilver" im Original schon über 900 Seiten, so steht "The Confusion" mit 816 Seiten dem kaum nach.

 

Das Buch ...

 

The Confusion umfaßt die Zeitspanne von 1689-1702, und Stephenson unterteilte seinen Roman in zwei "Novellen", wie er es nennt: Bonanza (die Goldgrube, Mine) und Juncto (die Kreuzung, die Verbindungsstelle, die Vereinigung). Während "Bonanza" im gesamten arabischen Mittelmeerraum bis tief hinein nach Afrika spielt und die Geschichte von Jack Shaftoe, seiner bunt zusammengewürfelten Piratenbande und einem sagenhaften Goldraub erzählt, spielt "Juncto" hauptsächlich in Frankreich, England, Holland und Deutschland. Damit handelt dieser Teil nicht nur die Zeit des französischen Sonnenkönigs, Ludwig des XIV., und seines gewaltigen, 4000 Menschen umfassenden Hofstaats in Versailles ab, sondern auch exakt die des englischen Königs Wilhelm III. von Oranien (freiheitlich-protestanisch, seit 1672 Statthalter und Oberbefehlshaber der Niederlande) in Großbritannien. Es ist die Ära des Merkantilismus, in Frankreich durch den Generalkontrolleur der Finanzen Jean Baptiste Colbert und seine "Steuerreformen" verkörpert, in England unter anderem durch die Gründung der Bank von England, die stetige Staatsverschuldung und den gleichzeitigen wirtschaftlichen Aufschwung zur dominierenden europäischen Handelsmacht. Es ist aber auch die Zeit der englischen "Bill of Rights", eines blühenden Kunst- und Kulturlebens und des Begreifens der Welt aus einer naturwissenschaftlichen Sicht. Hinzu kommen natürlich die Bemühungen der europäischen Staaten, "Kolonien" zu erobern, zu besetzen, zu erschließen und zu verteidigen - ganz besonders das heutige Amerika.

In diesem geradezu explosiven europäischen Spannungsfeld, das von unzähligen großen und kleinen Kriegen durchzogen ist, bewegen sich die Helden von "Juncto": der Wissenschaftler, Puritaner und Kryptograph Daniel Waterhouse, der Codebrecher des französischen Königs, Bonaventure Rossignol, der Kapitän Jean Bart, die Universalgelehrten Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz und schließlich Eliza, die von Jack Shaftoe in "Quicksilver" aus einem türkischen Harem befreit wurde und es inzwischen zur Gräfin von Zeur und Herzogin von Qwghlm geschafft hat. Und - jetzt sollten die Damen bitte aufpassen - Eliza ist DIE tragende Figur in "Confusion". Mit anderen Worten: Neal Stephenson, der Vorzeige-SF-Autor, der längst in der Vergangenheit angekommen ist, schrieb in weiten Teilen auch einen sehr schönen "Frauenroman". Eliza ist es, die die Fäden zwischen London und Versailles in Händen hält, die Zugang zur holländischen Börse und dem Geldhandelsplatz Lyon hat, die mit Leibniz ebenso korrespondiert wie mit dem deutschen Banker Lothar von Hacklheber und die mit Jacks Bruder Bob Shaftoe schläft. Sie ist es, die intrigiert, Pläne ausheckt, den Kopf ihres ehemaligen Sklavenhändlers geschenkt bekommt, heiratet, Kinder kriegt, Menschen zusammenführt und wieder trennt.

Im Gegensatz zu "Quicksilver", das erst im letzten Drittel an Tempo gewann, geht "Confusion" nicht nur rasend schnell los, sondern treibt die Handlung auf allen Ebenen gnadenlos voran. Der Leser hebt hier einen Schatz an Geschichten, Personen, Handlungen und Verknüpfungen, spannend bis zur letzten Zeile. So wird dieser zweite Band, zusammen mit "Quicksilver", schon jetzt ein Ort, den man immer wieder gern besucht, darin eintaucht und sich darin tummelt, als ein reines Buch. Einzig das Alter ego von Stephenson, der undurchsichtige, aber sympathische Enoch Root, dem schon in "Cryptonomicon" die Schlüsselrolle zufiel, gibt sich in "The Confusion" äußerst zurückhaltend.

 

... und das Web

 

Inzwischen arbeiten Stephenson und etliche andere Autoren bereits fleißig an ihrem Metaweb weiter. Dort finden sich im Moment 652 Beschreibungen, Erläuterungen, Erklärungen usw. von und zu Helden, Figuren, Orten, Handlungen, Begriffen usw. aus dem Roman "Quicksilver". Man kann zum Beispiel den merkwürdigen Ortsnamen "Qwghlm" eingeben, aus dem die Lieblingsfigur Eliza stammt, und wird darüber aufgeklärt, wo dieser fiktive Ort ungefähr liegen könnte. Eingebettet ist das Metaweb, ursprünglich eine Idee von Danny Hillis, in die freie Web-Enzyklopädie Wikipedia , die im englischen Original bereits über 300.000 und in der deutschen Fassung über gut 100.000 Stichwörter verfügt. Und das ist eine geradezu geniale Idee. In der "Wikipedia" gibt es nämlich schon ellenlange Artikel zu Newton, Leibniz usw., die niemand mehr neu erfinden muß, die aber tragende Figuren in "Quicksilver" sind. Auf diese Art erreicht Stephensons Metaweb gleich mehrere Dinge auf einmal: Zum einen zeigt es, wie eine vorhandene, frei verfügbare Enzyklopädie, unser Wissensschatz sozusagen, in ein hochaktuelles Thema eingebunden werden kann und damit in der Öffentlichkeit wahrnehmbar wird. Dann führt es natürlich Interessenten zu dem Buch und bietet dem eigentlichen "Quicksilver"-Leser viele Erklärungen, die nicht selbstverständlich sind (wer war nochmal Robert Hooke bzw. Boyle?); man kann sein Wissen vertiefen und sich auch aktiv am Prozeß des Metaweb beteiligen. Und schließlich wird das Thema im Medium Web, mit dessen Hilfe sich viele informieren, extrem tief verankert. Alle, die sich in den Verlagen mit dem Entdecken von "Bestsellern" abmühen, sei diese Site als Beispiel für eine ebenso sinnvolle wie gelungene Web-Umsetzung und -Einbindung eines Buches ans Herz gelegt.

Und außerdem - das sei nicht vergessen - verkürzt das Metaweb natürlich die Wartezeit bis zum dritten Teil des Barock-Zyklus, The System of the World. Also dann, bis zum November ...

 

Stefan Becht

Neal Stephenson - The Confusion

ØØØØØ

The Baroque Cycle, Vol. II


William Morrow/HarperCollins (New York 2004)

 

Links:

Weiterführendes


Als "Nebenlektüre" zum "Barock-Zyklus" sei Das moderne Weltsystem II - Der Merkantilismus von Immanuel Wallenstein, erschienen im Promedia-Verlag, empfohlen.

 

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