Stories_Zum 100. Todestag des Kolportageschriftstellers Robert Kraft

Die Wonnen des Trivialen

Am 10. 5. 2016 jährte sich der Todestag des Leipziger Autors Robert Kraft zum 100. Mal. Falls Sie noch nie von dem Zeitgenossen und Spezi Karl Mays gehört haben, wird es höchste Zeit, dies unter der fachkundigen Anleitung Hans Langsteiners nachzuholen.    17.05.2016

Heute vor einer Woche jährte sich der Todestag von Robert Kraft zum 100. Mal. Robert wer? werden jetzt viele fragen, da der Leipziger Kolportageschriftsteller heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Dabei galt er zu seiner Zeit einmal als "zweiter Karl May", dann wieder als "deutscher Jules Verne". Und etliche Verlage haben bis in die allerjüngste Zeit hinein versucht, Kraft der Vergessenheit zu entreißen. Lohnt sich die Mühe?

 

Es sind wüste Schinken, oft mehrere tausend Seiten stark und in Fortsetzungsheften publiziert, mit denen Robert Kraft seinerzeit Furore machte. Titel wie "Wir Seezigeuner", "Detektiv Nobody" oder "Atalanta - Die Geheimnisse des Sklavensees" bringen die Augen der Kenner auch heute noch zum Glänzen. Die Kolportageliteratur, also das, was immer noch als "Schundheftl" abgetan wird, hat Kraft zwar nicht erfunden, aber doch zu einer bis dahin nicht gekannten Popularität geführt. Ohne ihn wären Endlos-Heftserien wie "Sun Koh", "Rolf Torring", aber auch "Perry Rhodan" kaum denkbar gewesen.

 

Dabei hat sich Kraft auch selbst ungeniert bei älteren Kollegen bedient. Spuren von Abenteuerschriftstellern wie Friedrich Gerstäcker, Sir John Retcliffe und Karl May finden sich bei ihm ebenso wie manche Erfindungen eines Jules Verne. Und in seinem letzten, Fragment gebliebenen Mammutroman "Loke Klingsohr, der Mann mit den Teufelsaugen" bediente sich Kraft ungeniert bei den (ebenfalls aktuell neu aufgelegten) "Doktor Nikola"-Romanen des vergessenen Australiers Guy Boothby. Der dämonische Klingsor und sein nicht minder dämonischer Vorgänger Nikola, eine Art Vorgänger des legendären Dr. Fu Man Chu,  gleichen einander nicht nur bis aufs Haar, sondern auch bis auf die schwarze Katze auf der Schulter ...

 Im Grunde hätte Kraft solche Anleihen gar nicht nötig gehabt, verlief sein eigenes Leben doch wahrlich abenteuerlich genug. Robert Kraft wird am 3. Oktober 1869 in Leipzig als viertes von fünf Kindern geboren. Sein Vater ist ein durchaus wohlhabender Weinhändler, der auch eine kleine Ausschank betreibt. Keine schlechten Startbedingungen für den kleinen Robert, sollte man meinen, allein: es kommt ganz anders. Krafts Eltern lassen sich nach der Geburt ihres fünften Kindes scheiden, und der Knabe wird einem wenig verständnisvollen Kindermädchen überantwortet. Von früher Jugend an stottert Robert Kraft und leidet auch an einem S-Fehler - aus damaliger Sicht kein Wunder, daß er in der Schule gehänselt wird. Wie unglücklich diese Kindheit verlaufen sein muß, wird deutlich, als Robert mit zehn Jahren einen Selbstmordversuch mit Arsen unternimmt, der glücklicherweise scheitert.

   Mit vierzehn reißt Kraft das erste Mal, mit sechzehn das zweite Mal von daheim aus. Diesmal verbringt er immerhin schon vier Monate in ungebundener Freiheit, bevor er in der Technischen Staatslehranstalt in Chemnitz eine Art Ausbildung beginnt. Mit zwanzig gelingt dem ungestümen jungen Mann endgültig die Flucht: Von Hamburg aus schifft er sich als blinder Passagier nach London ein, wird dort von der Heilsarmee rekrutiert und segelt als Leichtmatrose nach New York.  Dort startet er eine Weltreise mit denkbar abenteuerlichen Stationen: Schmuggler in Nordamerika, Pelzjäger in Kanada, Abenteurer in Australien, Indien und im Mittelmeerraum. In Konstantinopel wird Kraft mit Cholera ins Spital eingeliefert, bevor er zunächst einmal seinen Wehrdienst absolvieren muß.

   Dabei hat Kraft Glück, weil er einen Posten als Bibliothekar zugeteilt bekommt. Nun schlingt er im Lauf von drei Jahren, nicht unähnlich dem jungen Karl May,  alles an Gedrucktem in sich hinein, dessen er habhaft werden kann. Am Ende der Wehrdienstzeit wartet ein Abenteuer, das Robert Kraft sogar in die Zeitung bringt: Er durchschwimmt den Jadebusen (immerhin an die drei Kilometer in der kalten Nordsee) und wird von Kaiser Wilhelm II. in Audienz empfangen.

   Kurz hält sich Kraft dann in Leipzig auf, bevor er sich als Matrose nach Port Said einschifft und ein halbes Jahr als Wüstenjäger in Libyen verbringt. Doch das Feuer der Jugend ist allmählich aufgezehrt: Kraft läßt sich in London nieder und beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller. Es folgen Heirat und die Übersiedlung nach Leipzig. Die Jahrhundertwende sieht Kraft wieder in London, 1902 verbringt er ein Jahr in Monte Carlo, doch dann siegt endgültig die bürgerliche Ruhe. Ab Ende 1903 lebt Robert Kraft in verschiedenen Städten in Deutschland, wo er 1916, erst 47jährig, stirbt. 

 

Viel von diesem ereignisreichen Leben findet sich in Krafts Texten wieder. Kraft war eben wie Gerstäcker, Charles Sealsfield und Jack London - und sehr im Unterschied zu Karl May - kein "Schreibtischtäter", sondern schöpfte aus dem vollen. Seine Heilsarmee-Zeit findet sich in "Fünf Wochen bei der Heilsarmee" wieder, den Aufenthalt in Monte Carlo hat der Autor in einer Novellensammlung namens "Die Roulette" verewigt, und den Weg zum Koloportageschriftsteller beschrieb Kraft im autobiographisch grundierten Roman "Das Glück des Robin Hood".

   Zuallererst aber hat Kraft immer wieder seine Jahre auf hoher See thematisiert. Schon die Titel seiner bekanntesten Bücher legen davon Zeugnis ab: "Schnelldampfer Mikrokosmos" (Untertitel: "Realistische Bordnovellen"!), "Der Unterseeteufel", "Die Vestalinnen", "Das versunkene Goldschiff" und vor allem "Wir Seezigeuner".

  Dieser zum Kraft-"Einstieg" bestens geeignete Dreitausend-Seiten-Wälzer (den der Karl-May-Verlag in den 1960er Jahren gekürzt und bearbeitet neuerlich auf den Markt warf) vereint brennglasartig alles, was Kraft so einzigartig und auch heute noch lesenswert macht: die Unbekümmertheit im Erfinden immer neuer Handlungsumschwünge, die der atemlosen Erzählung fast surreale Qualität verleihen, die durchaus differenzierte Charakterzeichnung (die Hauptfigur ist alles andere als ein idealisierter Superheld) und - besonders ungewöhnlich - den für die Entstehungszeit sensationell lockeren Umgang mit Sexualität.

  "Wir Seezigeuner" handelt  davon, wie sich der Abenteurer Richard Jansen von einer reichen Erbin als Kapitän anheuern läßt. Bereits auf Seite 150 (von mehr als 3000!) wird er ganz offen ihr Geliebter. Der Beziehung entspringt im Lauf des Romans ein Kind, und an einer Stelle erörtert der lebenslustige Jansen die Möglichkeit, im Lauf der Jahre weitere Kinder in die Welt gesetzt zu haben:

  

"Leicht möglich - besonders wohl da an der Ostküste dieses afrikanischen Erdteils mochte ich etliche halbschwarze Kinder nackt mang die Brombeeren herumlaufen haben - vielleicht mehr noch an der Westküste Südamerikas - nicht minder in - in ... na, lassen wir das ruhen."

("Wir Seezigeuner", Bd. 1/S. 379). 

 

 

Man stelle sich eine ähnliche Überlegung bei Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand vor – undenkbar.

   Überhaupt ist Robert Kraft beinahe so etwas wie ein früher Feminist. In einer Literaturgattung, die sonst fast ausschließlich maskulin, ja machistisch geprägt ist, rückt er nicht selten starke Frauen ins Zentrum. In den "Vestalinnen" macht sich eine Gruppe abenteuerlustiger Amazonen auf Weltreise, im "Neuen Lederstrumpf" geht es mitnichten um einen Indianer, sondern um zwei Konkurrentinnen, die auf Grund einer Wette um die Erde radeln, und in "Atalanta - Die Geheimnisse des Sklavensees" ist die Titelheldin (!) eine ebenso starke wie kluge Indianerin, die als einzige um einen legendären Schatz weiß. Hinter dem ist ein undurchsichtiger Chirurg her, doch Graf Arno von Felsmark steht Atalanta hilfreich zur Seite.

   Solche Andeutungen können schon zur Lektüre locken, allein: Wie sieht´s mit der Beschaffbarkeit Kraftscher Romane aus? Nun, besser als man glauben würde. Der bereits erwähnte Karl-May-Verlag hat gleich zwei Anläufe unternommen, Kraft unters Volk zu bringen: einmal im Rahmen der "Roten Reihe" in den Sechzigern und dann als "Ustad-Verlag" in Form kleinformatiger Einzeltitel. Dazu kamen immer wieder mutige Vorstöße kleiner und kleinster Verlage, von der "Edition Corsar" über die Heft-Reprints des österreichischen "Nostalgie-Drucks" Karl Ganzbillers bis zu jüngsten Veröffentlichungen des Lüneburgers Dieter von Reeken.

Besonders engagiert bemüht sich um Robert Kraft die deutsch-österreichische "Edition Braatz & Mayrhofer", in deren Rahmen nicht nur Primärtexte, sondern auch zwei umfangreiche Bibliographien und die erste deutschsprachige Robert-Kraft-Biographie überhaupt erschienen sind. Verleger Braatz plant für Mitte Oktober auch ein zweitägiges Robert-Kraft-Symposion in Leipzig, das den Schriftsteller dem Vergessen entreißen soll. Verdient hätte er´s. Die Wonnen des Trivialen lassen sich kaum anderswo überzeugender genießen als bei Robert Kraft.

Hans Langsteiner

Sun Koh, Der Erbe von Atlantis


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