Stories_Urlaubs-Kulturreise: Rokko´s Adventures im EVOLVER #21, Pt. 2

Blood, guts und Katzenfutter

Im zweiten Teil seiner Berichterstattung zum Sitges-Filmfestival erzählt Thomas Fröhlich mehr über das gezeigte Programm von 2008, stellt einige seiner Favoriten vor und erinnert sich an den Zombiewalk.    23.09.2009

Sollten Sie für Oktober noch keine Pläne haben, denken Sie nicht weiter nach, sondern tragen Sie gleich "Sitges" in Ihren Kalender ein: Dort findet jedes Jahr das größte Horror- und Phantastik-Filmfestival Europas statt. EVOLVER-Autor Thomas Fröhlich war vergangenes Jahr zu Gast und berichtete für Team Rokko. Lesen Sie hier den ersten Teil seiner Beobachtungen.

 

 

 

An fünf Abspielstätten wurden im Oktober 2008 bei zum Großteil ausverkauften Vorstellungen in erster Linie brandneue Filme gezeigt, von denen man einen nicht geringen Teil sicher nie irgendwo anders zu Gesicht bekommen wird (von einer großen Leinwand ganz zu schweigen). Aber auch die eine oder andere Großproduktion war dabei; zudem gab es auch Houellebecqs Filmdebüt zu betrachten (wer´s halt brauchte); man tauchte in die Welt des italienischen Regisseurs Umberto Lenzi ein (ich sage nur: "Cannibal Ferox" von 1981!); oder vergnügte sich im Rahmen einer Stanley-Kubrick-Retrospektive auf der Odyssee im Weltraum ("2001: A Space Odyssey", 1968) in einer wunderbaren Kopie im riesigen Auditori Melià. Letzteres befindet sich im ein paar Schritte vom Stadtkern entfernten 4-Stern-Hotel Melià, ebenso wie der etwas kleinere Sala Tramuntana. Im Altstadtbereich wurden das etwas intimere Casino Prado sowie das sich neben den Jardins del Retiro befindliche Retiro-Kino bespielt. In besagten Jardins, einem winzigen, aber feinen städtischen Park, gab´s auch bei freiem Eintritt die Open-air-Reihe Brigadoon Al Fresca mit Zeichentrickfilmen aus allen Phantastikbereichen zu bewundern, etwas familienfreundlicher in der inhaltlichen Ausrichtung als der Rest des Festivals - und auch die Katzen von Sitges hatten was davon. Besagter Park gilt nämlich als geschützter Wohnsitz jener herren- und frauenlosen Miezen, die von der Stadt amtlich durchgefüttert werden. Mit der nötigen Menge Katzenfutter bewaffnet konnte man sich dort durchaus Freunde fürs Leben schaffen - zumindest einen Abend lang.

Und last but not least das Brigadoon selbst, in dem neben der Lenzi-Retrospektive, einer aktuellen Asian Trash Cinema-Reihe, einer Präsentation der spanischen Kurzfilmextremisten Imagen Death und vielen anderen auch eine wunderbare Reihe mit ziemlich weirden Hollywood-Filmen aus den dreißiger Jahren lief ("Slaves In Bondage" von Elmer Clifton, 1937; oder das phänomenale "The Cocaine Fiends" von W. A. O´Connor, 1935): gelegen an einem der schönsten Plätze von Sitges, in Nachbarschaft zur eingangs erwähnten Kirche des Hl. Bartholomäus und der Hl. Thekla. Gleich vorm Brigadoon luden ein paar Tische an der alten Festungsmauer zum Verweilen ein, mit Blick aufs Meer und zum Bootshafen sowie zur Promenade zur Rechten.

 

 

Und das ist ein ganz wesentlicher Punkt, der das Festival so einzigartig macht. Ähnlich dem eher bastardisierten Filmbegriff, der hier spürbar ist (also keine ausschließende Ausrichtung auf Genre oder Arthouse oder Trash oder Blockbuster) und in eine Gesamtschau unter Zulassung - auch - inhaltlich extremer Spielarten mündet, liegen hier entspanntes Durchatmen und cineastischer Thrill nur einen Schritt voneinander entfernt. Abseits des aufgesetzten (und letztendlich völlig überholten) filmischen Reinheitsgebots, wie man es etwa seit Jahren unverändert bei der Viennale vorgesetzt bekommt, existieren Berührungsängste beim Sitges-Festival gar nicht. Und zwar in jede Richtung.
Klarerweise kann das auch ins Auge gehen, wie man bei der feierlichen Eröffnung im Auditori Melià erleben durfte. Da lief als Opener doch tatsächlich Alexandre Ajas dumpfes Asia-Remake "Mirrors" mit Kiefer Sutherland in der Hauptrolle, das neben einigen wenigen gelungenen Passagen durch nachhaltige Ideenlosigkeit und Abwesenheit jeglicher Originalität auffiel - was aber den Zustand des heruntergekommen amerikanischen Mainstream-Horrorkinos dieser Tage wiederum wunderbar unter Beweis stellte. Daß knapp zuvor Christiane, die Witwe von Stanley Kubrick, auf der Bühne die posthume Ehrung ihres Mannes durch die Festival-Leitung entgegengenommen hatte und das Publikum im Zuge dessen auch in den Genuß eines schönen Zusammenschnitts diverser Kubrick-Highlights gekommen war, half bei der Rezeption der "Spiegel" auch nicht wirklich.

Doch waren derlei Ausrutscher nicht symptomatisch fürs Festival - ganz im Gegenteil.
Eine beinahe unglaubliche Bandbreite an Filmen wurde hier geboten. Neben Erstaufführungen unterschiedlichster abendfüllender und Kurzfilme gab´s Retrospektiven (Kubrick, Lenzi), Tributes (Charlton Heston, Paul Naschy), Dokumentationen, Trailer- und Fake-Trailer(!)-Compilations sowie höchst erfreuliche Wiederaufführungen wie zum Beispiel jene des auch persönlich anwesenden Jörg Buttgereit, "Nekromantik" (1987), oder der 70er-Blaxploitation-Perle "Black Cesar" (1973) von Regisseur Larry Cohen, dessen Hauptdarsteller Fred Williamson nicht nur vor Ort, sondern auch als Jurymitglied gleichsam einer der Hauptmitwirkenden des Festivals war.

Die Trends waren jedenfalls relativ klar erkennbar: Auf der einen Seite findet man No-fun-Terrorfilme, die allesamt in einer grausigen (sozialen) Wirklichkeit verankert sind, mit gelegentlichen Passagen beinahe unerträglicher, realistischer Gewaltschilderungen, die aber - anders als beispielsweise bei der nach dem ersten Teil völlig degenerierten "Saw"-Reihe - eindeutig nicht nur als Nummernrevue für ein hirntotes, Nachos fressendes und ins Handy brüllendes Megaplexxx-Publikum gedacht sind. Auf der anderen Seite darf man sich über durchaus spaßigen Over the top-Splatter freuen, dessen Gore-Potential im Grunde nur noch im höheren bpm-Bereich rezipierbar ist. Dazwischen findet sich gediegenes Handwerk mit philosophischen Schlenkern sowie - im Dokumentarbereich - eine gelungene Rückschau auf popkulturelle Phänomene der vergangenen 40 Jahre.

 

 

Einzig die Zombies darf man ein wenig als Sorgenkinder betrachten, sind sie (nicht nur in aktuellen Filmen) doch ein wenig zum Studentenulk beziehungsweise zum "Spaß für die ganze Familie" heruntergekommen. So unterhaltsam auch Veranstaltungen wie der "Zombiewalk" sind (und großzügig unterstützt von Pepsi, Eastpak, einem professionellen Make-up-Team, dem spanischen Horrorfilmkanalableger Calle 13 und vielen mehr) - ihrer Relevanz sind die lebenden Toten schon länger beraubt. Der einzige, der sich noch ernsthaft mit den mittlerweile ein wenig in die Jahre gekommenen dauerhungrigen Stinkern beschäftigt, ist der Meister persönlich, George A. Romero, dem in diesem Jahr sogar eine Dokumentation gewidmet war ("One For The Fire" von Robert I. Lucas und Chris Roe).

Das Sitges-Festival ist halt auch ein Jahrmarkt geworden, der für (nicht nur genreaffine) Sponsoren immer interessanter wird. Das mag man nun gutheißen oder verdammen: Tatsache ist auch, daß erst dieses mit öffentlicher und privater Unterstützung angelegte Biotop ein Festival wie das von Sitges überhaupt ermöglicht. Und wenn der Darsteller des ersten in Romeros "The Night Of The Living Dead" (1968) auftauchenden Zombies, Bill Hinzman, neben der Original-Barbara Judith O´Dea nach 40 Jahren den Startschuß zum "Zombiewalk" gibt, dann kann man sich eines wohligen Schauers kaum erwehren.
"They started it all!" meint der ebenfalls anwesende Regisseur Robert I. Lucas völlig richtig. Und dem ist wenig hinzuzufügen.

Wenn auf anderen Filmfestivals vergleichbarer Größenordnung eine ähnliche Begeisterung für die Sache an sich spürbar wäre ... dann wäre die Welt ein besserer Ort: mit blood, guts und jeder Menge Katzenfutter!

In diesem Sinne: "Sie kommen und werden euch holen!"
Nach Sitges.
Und es wird euch gefallen.

 

Rokko’s Adventures

Blindness

(Kanada, Brasilien, USA 2008)

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Regie: Fernando Meirelles
Darsteller: Julianne Moore, Mark Ruffalo, Danny Glover u. a.

 

Um sich greifende Blindheit als Virus. Apokalyptisches, großes Starkino nach dem Roman von José Saramago. Gediegen. Erhielt den Publikumspreis von Sitges.

Links:

Eden Lake

GB 2008

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Regie: James Watkins

Darsteller: Kelly Reilly, Michael Fassbender, Jack O´ Connell u. a.

 

Junges Pärchen gerät an Teenie-Gang. Klingt abgedroschen, ist aber reinstes, effektives Terrorkino und das, was Hanekes "Funny Games" sein hätte können, wenn es halt nicht von Haneke wäre.

Links:

Let The Right One In

Schweden 2008

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Regie: Tomas Alfredson

Darsteller: Käre Hedebrant, Lina Leandersson, Per Ragnar u.a.

 

Vampirismus im Zeitalter disfunktionaler Familienverhältnisse. Jugenddrama? Horrorfilm? Sozialstudie? Egal. Aufwühlend und wunderschön.

Links:

Red

USA 2008

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Regie: Trygve Allister

Darsteller: Brian Cox, Tom Sizemore, Noel Fisher u. a.

 

Teenies erschießen aus Fadesse den Hund eines alten Mannes und setzen damit eine Gewaltspirale in Gang, die keine Gewinner kennt. Ruhige, atmosphärisch dichte Verfilmung von Jack Ketchums Erzählung. Brian Cox erhielt den Preis der Jury als best actor. Zu Recht.

Links:

Surveillance

USA 2008

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Regie: Jennifer Lynch

Darsteller: Bill Pullman, Julia Ormond, Michael Ironside u. a.

 

Roadmovie um Highway-Slasher und FBI-Agenten. Erhielt in Sitges das Prädikat Best Motion Picture, was der Schreiber dieser Zeilen nicht ganz nachvollziehen kann (bei der Auswahl!). Aber: Übel ist er auch nicht, ganz im Gegenteil. Lief in Österreich bereits im Kino - wer ihn damals nicht gesehen hat, sollte ihn sich ruhig auf DVD besorgen.

Links:

Tokyo Gore Police

Japan 2008

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Regie: Yoshihiro Nishimura

Darsteller: Eihi Shiina, Itsuji Itao, Yukihide Benny u. a.

 

Was dich nicht umbringt ... In diesem Fall sorgt jede Verwundung bei einer Gruppe Mutanten für neue, tödliche Waffen. Entweder man findet´s großartig - oder man geht. Speed-Splatter der derb-phantasievollen Art, den man gesehen haben muß, um´s zu glauben.

 

Links:

Martyrs

F/Kanada 2008

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Regie: Pascal Laugier
Darsteller: Morjana Alaoui, Myrlène Jampanoí, Catherine Bégin u. a.

 

Ein Kind entkommt nach einjähriger Gefangenschaft aus einem Keller. 15 Jahre später sucht es ein ganz bestimmtes Haus auf, mit einer Schußwaffe in der Hand. Inhaltliche Fallstricke und extreme graphic violence zeichnen diesen Film aus. Dazu darf man ruhigen Gewissens "Schocker" sagen. Erhielt Silber von der Méliès-Jury.

Links:

Ferner liefen


Chelsea On The Rocks (USA 2008)
Regie: Abel Ferrara. Darsteller: Ethan Hawke, Dennis Hopper, Gaby Hoffman u. a.

 

Dokumentation übers legendäre New Yorker Chelsea Hotel. Sex, Drugs & Rock´n´Roll - man gönnt sich ja sonst nichts.

 

 

Encarnacao do Demonio (Brasilien 2008)

Regie: José Mojica Marins. Darsteller: José Mojica Marins, Jece Valadao, Milhem Cortaz u. a.

 

Zé do Caixao alias J. M. Marins kehrt zurück. Horror als Lebensstil - das Ergebnis ist ein bildgewaltig-perfider Film mit blutig-schönen Sexszenen. Auf manche Menschen ist eben Verlaß! Lief im Rahmen der Reihe "Midnight X-tremes" und erhielt den "Midnight X-treme Award".

 

 

Hold Your Fire (USA 2008)

Regie: Wes Benscoter. Darsteller: Rie Cato, Neon Grey, Steve Musti u. a.

 

Kurzfilm über die physischen Folgen des Krieges. Ultimativer Anti-Kriegsfilm, der diese Bezeichnung auch verdient hat.



One For The Fire: The Legacy Of The Night Of The Living Dead (USA 2008)

Regie: Robert I. Lucas, Chris Roe. Darsteller: George A. Romero, Judith O´Dea, John A. Russo u. a.

 

Dokumentation über "Die Nacht der lebenden Toten" und deren Darsteller. Pflicht.



The Sky Crawlers (Japan 2008)

Regie: Mamoru Oshii

 

Stell dir vor, es ist Frieden - und der Krieg ist nur eine TV-Show, allerdings im Reality-Format. Philosophisch, elegant, poetisch, Action-reich: Der José Luis Guarner Critic Award ging an diesen Zeichentrickfilm. Go for it!



Sexy Killer
(Spanien 2008)

Regie: Miguel Marti. Darsteller: Macarena Gomez, César Camino, Alejo Saurao u. a.

 

Der Titel ist Programm. Hübsche Serienkillerin mordet sich durchs Land und unterrichtet zwischendurch das Publikum, wie man´s macht. Wirklich lustig und politisch erfreulich unkorrekt.

Links:

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