Stories_Wien - Salzburg, zu Fuß, über die Berge

Der Weg ist (nie) das Ziel

Martin Zellhofer will von Wien nach Salzburg: 50 Minuten mit dem Flugzeug, zwei Stunden 22 mit dem Zug, rund drei Stunden mit dem Auto, drei Wochen zu Fuß. Er wählt letzteres.    09.06.2017

Wandern? Das kann doch jeder. Ich starte meine Tour entlang des Österreichischen Weitwanderwegs 04 - ohne Wanderschuhe, ohne Sonnencreme, ohne Sonnenhut. Meine Ausrüstung mit Wanderkarten ist lückenhaft. Meine Begleitung und ich haben keine einschlägige Erfahrung und sind kaum vorbereitet. Wandersaison ist auch nicht, weil gerade Hochsommer ist.

 

Zwölf Kilo schleppe ich auf dem Rücken. Den Proviant für heute und sicherheitshalber auch für morgen - wer weiß, was kommt - trage ich in einem Plastiksackerl in der Hand. "Ich bin doch nicht blöd" steht da drauf. Bin ich aber möglicherweise schon, weil ich in Ermangelung von Wanderschuhen mit alten Sportschuhen gehe. Mitbewohnerin A., mit der ich unterwegs bin, und ich nehmen uns vor, auf dem Weg vorwärts kein Fahrzeug zu benutzen, unser Budget ist ein Low- bis No-Budget. Das Zelt, 4,5 Kilo zusätzliche Belastung, lassen wir im letzten Moment doch zu Hause.

Voller Energie marschieren wir los, ununterbrochen erzählen wir uns Geschichten. Als es bergauf in den Wienerwald geht und immer heißer wird, verstummen wir. Das Gepäck drückt. Ich bin mir sicher, die Stadt und den Wienerwald wie meine Westentasche zu kennen und ohne mir das vorher einmal auf einer Karte anzusehen, den Österreichischen Weitwanderweg 04 - auch Voralpenweg genannt - ganz leicht zu finden.

Die peinlichen Details unserer Odyssee durch Wien und Umgebung am ersten Tag erspare ich uns allen. Nur soviel: In zehn Stunden inklusive Pausen legen wir 29,5 Kilometer von unserer Wohnung im vierten Bezirk bis zur Schnellbahnhaltestelle Purkersdorf Zentrum zurück. Auf direktem, wanderbaren Weg abseits der Hauptverkehrsstraßen wären es rund 18 Kilometer gewesen. Der Witz dabei: Purkersdorf liegt gar nicht an der von uns für den ersten Tag geplanten Strecke, doch unser Irrweg durch den Wienerwald ließ uns bereits bei einem Kaffee auf der Sophienalpe die Route für die ersten beiden Tage umstoßen. Abends suchen wir einen Schlafplatz im Wald. A. klettert in ihren Schlafsack, dreht sich um und schläft. Ich liege lange wach. Es raschelt ununterbrochen im Gebüsch. Sind das Jäger, Hirsche, Wildschweine, Hunde oder tollwütige Füchse? Wer weiß, ob hier im Nahbereich Wiens nicht noch andere Gestalten im Freien nächtigen? 

 

Am nächsten Morgen wachen wir gegen 7 Uhr 45 auf. Ich habe sehr schlecht geschlafen, wohl vor Angst, wie A. behauptet. Dafür ist der sonnendurchflutete Wald traumhaft. Obwohl hier nichts wie zu Hause ist (kein Klo, keine Dusche, keine Kaffeemaschine, kein Gang zum Bäcker), brauchen wir dennoch eine Stunde, um startklar zu sein. Unterwegs erfragen wir einen Weg nach Rekawinkel abseits der Bundesstraße. "Des is aber no weit", erklärt man uns. Hätten wir lieber gleich nach dem Weg nach Salzburg fragen sollen?

Ab Rekawinkel wollen wir endlich dem 04er mit Hilfe unseres Wanderführers folgen (was uns großteils auch gelingen wird). Der Wanderführer verzeichnet die Marschroute bloß skizzenhaft, die Mitnahme detaillierter Karten wird empfohlen. Einige haben wir auch, aber da unsere Unternehmung möglichst wenig kosten soll, füllen wir die Lücken nicht. Mittags kühlen wir unsere Füße in einem Bach - bis wir Blutegel entdecken. Gegen 20 Uhr erreichen wir das Etappenziel Laaben. Am Himmel steht kohlrabenschwarz ein Gewitter. A. besteht trotzdem darauf, die "erfahrenen Einheimischen" zu fragen, ob denn das Gewitter "überhaupt runterkommt", denn wir könnten ja wieder im Freien schlafen. Als ob die Wetterverhältnisse 38 Kilometer Luftlinie von unserer Wohnung entfernt anders wären als daheim ... Während sie auf der Straße niederländische Touristen (die lieber hier als im teuren Wien nächtigen) nach deren Expertise befragt, weil sie keine Einheimischen finden kann, suche ich Quartier. Selbst als ein Sturm losbricht, geht sie nur widerwillig mit mir. 15 Minuten, nachdem wir ein Zimmer bezogen haben, bricht das Unwetter los.

     

Die Wirtin schenkt uns morgens selbstgebackenes Brot. Nachmittags laufen wir erstmals ins Leere. Dem Führer zufolge, dessen Wegzeitangaben eigentlich sehr genau sind, sollten wir längst auf der verzeichneten Hütte sein. Wir gehen immer schneller, voller Durst und ohne Wasser. Als wir die Hütte endlich erreichen, ist sie geschlossen. Wir bleiben durstig. Die Gegend wird zunehmend einsamer, die Ausflügler aus dem Nahbereich der Großstadt und die breiten, stark befahrenen Straßen verschwinden.

Am Tagesziel Wilhelmsburg haben wir es an der Traisen romantisch: A. badet im Fluß, wir kochen mit dem Gaskocher am Ufer. Als wir einen Busch für die Nacht finden, beginnt ein Wetterleuchten. Die Büsche können mich, ich will mir ein Zimmer nehmen. A. überredet mich, mit ihr eine Scheune zu suchen. Mittlerweile ist es 21 Uhr 30 und fast ganz dunkel. Bei der Fragerei nach einer Scheune (das wird sie künftig noch öfter machen) bietet uns ein Ehepaar an, in ihrem Garten ihr Zelt für uns aufzubauen. Sie sind selbst viel beim Trampen herumgekommen und haben auch oft irgendwo übernachtet; offensichtlich gefällt ihnen, was wir machen.

 

Am Morgen lehnen wir das angebotene Frühstück dankend ab. "Zu spät", grinsen sie, "es ist bereits gedeckt." Um uns zu revanchieren, hinterlassen wir unsere Adresse mit dem Hinweis, jederzeit bei uns in Wien nächtigen zu können. Im Ortszentrum schnorrt mich ein Sandler an. Automatisch verneine ich, aber dann denke ich daran, daß mir gerade so viel Gutes widerfahren ist. Hocherfreut nimmt er meine Münze entgegen und flüstert mir vertraulich ins Ohr: "Waaßt, i hob nämlich a Alkoholproblem." Hätte man nie gemerkt ...

 

Rauf-runter, rauf-runter. Grassberg, Kaiserkogel, Grüntalkogel - 561, 716, 886 Meter Seehöhe. Diese verdammten Berge. Jedes Mal, wenn der Führer erwähnt, daß der Weg im Tal oder auf einem Bergrücken verlaufen wird, freue ich mich zu früh. Meistens sind diese erholsamen, weil ebenen Strecken nämlich in wenigen Minuten gegangen. Rabenstein an der Pielach, Plankenstein, Scheibbs. 28, 19, 24, 30 Tageskilometer. Einmal nächtigen wir bei den Pfadfindern in Hütten, die mit den Betten alter Eisenbahnschlafwagen ausgestattet sind. Inklusive Spritzpistolenangriff der jungen Pfadfinder. Auf der riesigen Burg Plankenstein sind wir die einzigen Gäste und mit dem Burgherrn bloß zu dritt in den alten Gemäuern. Ein aufkommender Sturm läßt das Gebälk des Schlafsaals ächzen, der Himmel ist kohlrabenschwarz. A. liest aus einem Burgführer vor, in welchem Teil des Gebäudes Geister gesichtet wurden ... das ist unheimlich.

 

Tag sechs beginnen wir ohne Frühstück, das reduziert die Übernachtungskosten auf der Burg um sieben Euro pro Person. Scheibbs und somit der nächste Supermarkt - glauben wir - sind nicht weit weg. Irrtum. Unterwegs fragen wir bei einem "Ab Hof Verkauf" nach einem Glas Milch - und bekommen eines geschenkt. Erst mittags erreichen wir Scheibbs.

Hunger! Gegen 20 Uhr 30 kommen wir in Gresten an. Dort gibt es laut Führer ein Gasthaus, in dem Alpenvereinsmitglieder ermäßigt übernachten können. Die Wirtin ist unwillig: "Was die da immer reinschreiben ...". Dann halt nicht, wir gehen wieder. Doch der Stammtisch ist auf uns aufmerksam geworden. Ein Mann bietet uns an, sieben Kilometer von Gresten entfernt in seiner "alten Hütten, aner Rumpelkammer", übernachten zu können. Er bugsiert uns in sein Auto, und los geht´s  (wobei wir unseren Vorsatz brechen, alles zu Fuß zu gehen). An seiner Stammwirtin läßt er kein gutes Haar - das da sei eine strukturschwache Region, warum sie so mit den Gästen, von denen es eh kaum welche gäbe, umgehe. Seine Rumpelkammer ist ein voll ausgestattetes Wochenendhäuschen mit elektrischem Licht, Küche, Klo und mehreren Sofas. Den Schlüssel sollen wir am nächsten Tag hinter das Fensterbrett hängen. Die Nachbarn bringen Tee und Buchteln. Wenn wir sonst etwas brauchen (Bier, Wein, Schnaps) können wir jederzeit rüberkommen.

 

Ybbsitz - Waidhofen an der Ybbs - Ternberg - Molln. Sportschuhe gegen Sandalen getauscht, dann fast nicht mehr in die Sportschuhe gepaßt. Wahnsinnige Hitze, Schweiß rinnt in Strömen, mein Sonnenbrand wirft Blasen. Später strömender Regen; wir packen die Rucksäcke in große Müllsäcke und uns in unsere Regenjacken. Verlaufen uns, sind stellenweise auf allen vieren unterwegs. Nagelzwicker, Tee, Kuchen und Äpfel geschenkt bekommen. Zum Bier eingeladen worden, dann zum Übernachten auf der Couch. Ich glaube, wir profitieren von einer Art Pärchenbonus. Doch noch in einer Scheune übernachtet. "Ja nicht rauchen oder sonst irgendwie mit Feuer hantieren!" Den ersten 1000er überquert.

 

Und dann ist das Abenteuer für mich rasch zu Ende. Am zehnten Tag steigen wir nachmittags durch den steinigen Dorngraben Richtung Molln ab, als mein rechter Fuß unvermittelt zu schmerzen beginnt. Ich wechsle auf die Forststraße, es wird trotzdem immer schlimmer. Kurz vor Molln verläßt mich die Kraft - ich kann nicht mehr, fühle mich fiebrig und erschöpft.

Der dritte Wagen hält. Wir bitten die Fahrerin, uns zur nächsten Apotheke zu bringen. Da es weit und breit keine gibt, bringt sie uns zum Spar im Nachbarort. Der hat zwar schon zu, aber sie klopft so lange, bis ich eine Salbe bekomme. Dann bitten wir sie, uns zu einem Arzt zu bringen. Das lehnt sie ab: Der einzige Arzt, der jetzt erreichbar sei, sei so ein Quacksalber, daß sie lieber zum Tierarzt gehen würde. Ihre Tochter ist Krankenschwester, die könne das genausogut behandeln. Die Tochter diagnostiziert Überanstrengung, da sich der Fuß normal bewegen läßt. Abschließend bitten wir, zu einem Gasthof geführt zu werden, was "nicht in Frage kommt, bei den Preisen, die die Wirten hier verlangen". Selbstverständlich können wir im Haus übernachten. Am Abend gibt es Familienanschluß und Schnaps für uns. Auch die nie benutzten, maßgeschneiderten Wanderschuhe des verstorbenen Großvaters könnte ich haben. Die passen zwar wie angegossen, aber ich lüge - das Geschenk kann ich nicht annehmen.

Ich fahre per Anhalter und Zug zwei Tagesetappen voraus nach Ebensee. Doch das mit dem Fuß wird nichts mehr. An unserem letzten gemeinsamen Abend trinken wir Wein am Traunsee. Aus der Flasche, versteht sich. Am nächsten Morgen reise ich ab.

 

Und A.? Die organisiert sich einen neuen Reisepartner. Durchquert das ursprüngliche Ziel Salzburg und geht bis in die Arlberg-Region. Wäre ihr zweiter Begleiter unterwegs nicht auch krank geworden, wer weiß, wo sie gelandet wäre.

Martin Zellhofer

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