Stories_TV-Serien & Ideologien

A Game of Pawns

Dienen Qualitätsserien noch der gehobenen Unterhaltung oder längst der ideologischen Indoktrination? Und was haben deutsche TV-Produktionen damit zu tun? MiC liefert dazu einen Tagebucheintrag - knapp nach den Iden des März.    06.04.2016

Die sogenannten Qualitätsserien, die seit der Online-Offensive der mit Investorenkapital gepushten Streaming-Anbieter wie Netflix oder Amzon (die mittlerweile auch Emmy-Sieger produzieren) Flatscreens jedweder Größe heimsuchen, sind in der Regel nichts anderes als in Hochglanz verpackte Ideologie. Sie perpetuieren die Ideologie einer Kultur, die jedem Einzelnen totale Individualisierung und Freiheit vorgaukelt und dabei verschweigt, daß diese nur demjenigen zustehen, der sich die individuelle Konsumentenfreiheit auch leisten kann. ("Nichts ist umsonst. Wer nicht mit Geld bezahlt, der bezahlt eben mit seinen Daten", sagt Facebook-Milliardär Mark Zuckerberg.)

In ihrer schonungslosen Offenheit, jedes nur erdenkliche Thema dramatisch aufzubereiten und abzuarbeiten, ob Ranküne in der Politik, transsexuelle Verwandlungen in Suburbia oder schizophrene Hacker im Überwachungsstaat (um nur jüngste Erfolgsformate zu nennen), beackern die Fernsehserien - oder sollte man nicht besser "serielle Erzählformate" sagen? - die unleugbaren Widersprüche unserer Gesellschaft. Eingebettet in die uralten Regeln des Dramas und moderne visuelle Erzählmuster findet der Zuschauer Verhaltensbeispiele für den eigenen Umgang mit diesen Konflikten. Wenn diese ihn nicht betreffen oder er den eigenen Umgang scheut, so hat der Zuschauer zumindest eine empathische Teilnahme erfahren. (Es soll ja noch Verfechter der aristotelischen Katharsis-Theorie geben, die behaupten, das allein genüge.)

Was der Seelenhygiene dienlich erscheint, wirkt auf den zweiten Blick ernüchternd. Diese "thematische Auseinandersetzung" ist nichts anderes als die krampfhafte Suche nach einer neuen Oberfläche, auf der immer gleichlautende Botschaften verkündet werden: "So ist das Leben, nimm es an, amüsier dich und fühl dich besser, schwimm brav weiter mit, geh shoppen usw." Die Werte dieser Serienwelten scheinen die Werte friedlich koexistierender Menschen zu sein, vielmehr von Menschen mit der Absicht, friedlich zu koexistieren, was naturgemäß nicht einfach ist und deshalb tagtäglich mittels unmittelbarem Zwang oder Drohnenbeschuß oder Vorratsdatenspeicherung realisiert respektive verteidigt werden muß.

 

 

 

Um welche Werte handelt es sich dabei? Salopp formuliert sind das folgende: Du allein bist für dein Leben und dein Glück verantwortlich. Du mußt kämpfen, damit dir etwas gehört. Du mußt schützen, was dir gehört. Du mußt deine Familie und die Schwächeren in deiner Welt schützen. Die Guten sind klar auszumachen und die Bösen auch (es sind immer die anderen). Der Zweck heiligt die Mittel. Der Kampf gegen das System ist dumm, denn das System ist gut und muß daher gegen alle verteidigt werden, die es bedrohen. (Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit ...)

Wer genau hinsieht, der erkennt sofort, daß es sich dabei um Besitzstandsdefinitionen handelt, um Varianten der Unterscheidung von mein und dein, von Freund und Feind, von Habenden und Habenichtsen - Letztere sind zudem noch neidisch -, um die klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt.

Denn diese unsere Wirtschaftsordnung, die nicht nur unser ganzes Leben bis in seine kleinsten Kleinigkeiten dominiert, die unsere Spezies dazu bringt, wieder besseres Wissen ihre eigenen Lebensgrundlagen völlig zu zerstören, die es schafft, jede Gesellschaftsordnung zu transzendieren, und die sämtliche systemischen Widersprüche scheinbar aufzuheben vermag, beruht einzig auf dem Prinzip dieser Trennung. Sie bedient sich dabei geschickt des biologischen Grundtriebs des Homo sapiens, seinem Arterhaltungstrieb, der sich in Selbsterhaltung der Person und in der Fortpflanzung manifestiert - in Eigennutz und Sex. (Alle weiteren Verhaltensweisen sind nichts anderes als bewährte, opportune Muster, die das Ziel der Arterhaltung erleichtern.) Egoismus und Sex sind die Triebfedern jedes Werbespots (sogar ein Bestattungsunternehmen wirbt mit geilen letzten Chill-Plätzen). Womit wir wieder beim Bewegtbild und seinen Inhalten angelangt wären ...

 

 

 

Meine These lautet zusammengefaßt: Alle modernen TV-Serien untermauern die Ideologie des Status quo, ihre Gesellschaftskritik ist nur ein Ventil für die unleugbaren Widersprüche der Lebensrealität der Zuschauer - ob diese sie bewußt empfinden oder nicht, ist dabei ohne Belang - und zementieren somit die vorherrschende, kapitalistische Ideologie. Und solange sie das erste Gebot der Unterhaltung befolgen, "thou shalt not be boring”, ist der Erfolg auf ihrer Seite.

(Kleiner Nachtreter: Dies ist ein Gebot, gegen das deutsche Formate in der Regel verstoßen, weshalb sie auch hauptsächlich von Leuten ohne Internet oder grenzdebiler Klientel geschaut werden.)

Mir fallen nur zwei echte Ausnahmen in der großen, weiten Serienwelt ein. Die erste ist "The Prisoner”, als deren Mastermind Patrick McGoohan zeichnete, die zweite ist "Deadwood” von David Milch. Keine andere Fernsehserie reicht in ihrer scharfsinnigen, gesellschaftlichen Analyse und der damit verbundenen, schonungslosen Kritik an diese beiden Formate heran. Keine.

Jetzt werden die Ausgefuchsten unter den Lesern ausrufen: "Mitnichten, viele Serien differenzieren viel stärker, ihre Kritik ist eben subtil" Andere werden Worthülsen wie "Nihilismus und Zynismus” unterbringen. Das ist bestimmt euer gutes Recht, ändert aber nichts an den Tatsachen.

In der Realität des Jahres 2016 sind wir "McGoohans Prisoner", Geiseln der schönen neuen Streaming-Serienwelt: We all are held hostage by American TV. We all are in a Game of Pawns.

 

Postskriptum: Schaue im Selbstversuch abwechselnd "The Prisoner" und "House of Cards". Läuft die amerikanische Version des grandiosen BBC-Originals geschmeidig wie Ben & Jerry´s Eiscreme durch (binge watching), so wirkt die bald 50 Jahre alte "Prisoner"-Serie derart intensiv auf Sinne und Verstand, daß es eines zeitlichen Abstands zwischen den einzelnen Folgen bedarf, zum emotionalen Nachschwingen und zur Reflexion. Sie ist heute aktueller denn je. Unglaublich.

 

Post-Postskriptum: Die beste Entlarvung des Kapitalismus im Kino ist nach wie vor John Carpenters "They Live" von 1988. Dieser Film müßte für Grundschüler Pflicht sein.

 

 

MiC

Ich bin keine Nummer!

Nummer 6


Als die TV-Serie "Nummer 6" mit einer kryptischen Doppelfolge endete, liefen beim britischen Sender die Telefondrähte heiß - aus Protest gegen das Ende der 17 Folgen langen, außergewöhnlichen Produktion mit Patrick McGoohan. Kann man sich 40 Jahre danach noch mit dem Fan-Fieber anstecken? 

Links:

Mehr als eine Nummer ...

The Prisoner/Part I


Der EVOLVER freut sich, eine neue Kooperation bekanntgeben zu dürfen - diesmal mit der tradtionsreichen Comic-Fachzeitschrift DIE SPRECHBLASE, die sich auf ihren Seiten nicht nur der allseits beliebten Bildergeschichten, sondern auch anderer Popkultur-Themen annimmt. SPRECHBLASE-Chefredakteur Gerhard Förster setzt sich in unserer Premiere mit einer der wichtigsten "Kultserien" aller Zeiten auseinander.

Links:

Kommentare_

nr6de - 06.04.2016 : 09.36
Nun ja, ich bin qua Tätigkeit, der schönsten Nebenbeschäftigung, befangen, was das angeht, freue mich natürlich über die lobende Erwähnung von NUMMER 6. Die Grundthese dieses Artikels ist allerdings auch nicht wirklich neu, wenn auch nicht gleich "boring", um das Wort aufzugreifen. Aber John Carpenters THEY LIVE, "beste Entlarvung des Kapitalismus" Nichts gegen Carpenter, aber das ist zu viel der Ehre! "Destroy all monsters", darum geht es hier, klassisches Genrekino. Und das hat der Meister schon besser gemacht.
martin compart - 09.04.2016 : 16.09
Vielleicht hilft das, deinen Horizont zu erweitern:
https://www.youtube.com/watch?v=CMRM_bfCBig
nr6de - 10.04.2016 : 12.43
Martin Compart, sehr erfreut! Mir gefällt an THEY LIVE das Philip K. Dick'sche Format, das Abblättern von der Fassade der Realität, durch die Spezialbrillen ermöglicht. Ray Nelson, der Autor, war ein Freund von Dick. Slavoj Zizek kenne ich, mit Jean Baudrillard "groß geworden", eher dem Namen nach. Die Kapitalismuskritik, finde ich, schwimmt hier nur im Kielwasser mit. THEY LIVE ist unter Carpenters vielen Filmen klar einer der unterdurchschnittlichen, die Inszenierung in Teilen uninspiriert und die Schauspielerei so grässlich wie Roddy Pipers Kloppereien. Aber vielleicht melden Sie mir einmal, ich hätte ein Anliegen.
martin compart - 11.04.2016 : 09.10
Ich sehe das völlig anders. Ich halte THEY LIVE für Carpenters besten Film. Der Wrestler Roddy Piper gibt dem Protagonisten eine überzeugende Working Class Crdibility, die ein Star (etwa Kurt Russel) nicht mitgebracht hätte. Die lange Schlägerei ist wohl auch eine "Hommage" an Pipers Profession. Aber über Geschmack und Analyse lässt sich bekanntlich vortrefflich streiten.
Meine emai: m.compart@gmx.de

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