Stories_Peter Stöger

Das Monokel des Polyphem

So lautet der Titel jenes unvollendet gebliebenen Werkes, dessen "Notizen" wir Ihnen hier ab nächster Woche präsentieren: eine aberwitzige Textkonstruktion, die den Leser ebenso zur Verzweiflung treiben wie bestens unterhalten kann. Doch wer war der Künstler eigentlich?    13.05.2011

Er wurde geboren, kurz nachdem ein anderer Oberösterreicher den Zweiten Weltkrieg angefangen hatte. Polen war schon aufgeteilt, als am 24. 10. 1939 der Nachwuchs des Bahnangestellten Wilhelm Stöger und seiner Gemahlin Margarete - vergleichsweise unspektakulär - das Licht der Welt erblickte.

Der Familie ging es nicht besonders, was wohl auch an ihrer traditionell sozialistischen Gesinnung gelegen sein dürfte. (Ja, so hieß das damals noch; die Aufweichung zu "sozialdemokratisch" kam hierzulande erst 50 Jahre später.)

Dem Hunger der Nachkriegszeit entging der Bub großteils, weil sich ein Platz bei der Schweizer Grenzlandhilfe für ihn fand. Danach - wieder zu Hause - besuchte er das Humanistische Gymnasium. Hier wurde einerseits der Grundstein zu seiner Begeisterung für die Klassische Antike gelegt; eine Leidenschaft, die er sich für den Rest des Lebens erhalten sollte.

Andererseits wurde immer deutlicher, daß er wenig Neigung verspürte, dem väterlichen Vorbild zu folgen und Karriere bei der Bundesbahn zu machen. Im Freundeskreis des Gymnasiasten ließ man sich die Haare wachsen, rauchte und hörte Jazz (vulgo Negermusik) - ein Benehmen, das im nicht gerade weltstädtischen Linzer Ambiente der 50er Jahre für ziemlichen Aufruhr sorgte.

 

Mit Sechzehn wechselte er in die Kunstschule (heute: Kunstuniversität). Hier teilte er sich das Atelier mit Klaus Pinter, einem späteren Gründungsmitglied der "Haus-Rucker"; die Freundschaft sollte andauern, noch Jahrzehnte später ersann Stöger Titel und Begleittexte für die Werke des eher bodenständigen Schärdingers. Das Vorwort zu Pinters "Made in Tyrol" etwa, wo es heißt:

"Wir lasen Lautreamont und kanonisierten Max Ernst und Marcel Duchamp als unsere ersten, ernstzunehmenden Kirchenväter. Wir folgten erzürnt den Spuren Napoleons in der Wildnis der Lobau, wir leerten die letzte Flasche im regnerischen Morgengrauen vor der Albertina, wir pumpten die Zeche und balgten uns im Cafè Sport. Zeitweilig drohte uns die planetarische Zentrifugalkraft aus den Schuhen zu heben, allzeit aber hielten wir uns mit wohltrainierter Zentripetalkraft im Lot. Gemeinsam erkletterten wir nächtens den Neustifter Kirchturm, um seine Uhrzeiger auf eine paradoxe Zeit umzustellen …"

[Anspielung auf das Gemälde "Napoleon in der Wildnis" von Max Ernst sowie auf den "Napoleonstein" in der Wiener Lobau; Anm.]

Man soff, man philosophierte, man ersann die Welt neu. Es galt, Futurismus und Dadaismus zu erörtern, Kubismus und Surrealismus: den Kosmos des Denkbaren abseits allgegenwärtiger Provinzialität. Und man legte sich mit den Professoren an - Stöger jedenfalls. Das damals gerade modern gewordene Prozedere, aufmüpfige Schüler zum Psychologen zu schicken (eine folgenlose Maßnahme, die die Obrigkeit das Gesicht wahren ließ), sollte dem Künstler später die Einberufung zum Militär ersparen. 1958 jedenfalls schloß er die Meisterklasse unter Alfons Ortner ab.

 

Drei Jahre später heiratete er Brigitte Horsinka, die etwas eigenwillige Tochter sudetendeutscher Flüchtlinge; nach der Geburt eines Sohnes übersiedelte das Paar nach Wien. Der Traum vom Leben in der großen Stadt kollidierte bald mit der Realität. Stöger mußte zunächst Jobs als Bühnenbildner annehmen - eine Korrektur des wohl erwünschten Lebenslaufes, die er später (ein bißl großgoschert) als sein bürgerliches Experiment bezeichnete.

Trotzdem blieb er seiner Profession treu. Auch, wenn einmal die Vernissage einer Ausstellung ungewolltes Aufsehen erregte, wie etwa "Fumages" (Linz, 1968). Die Werke - aus Styropor geschmolzene Objekte - wurden mit Plastikplanen verhüllt, welche zur Eröffnung abgebrannt werden sollten. Seine Erläuterung zur Entstehung:

"Also diese Bilderverbrennung - es war natürlich ganz etwas anderes, nämlich ein subtraktives Verfahren: nicht etwas durch Umhüllung verändern, sondern durch Enthüllung klarlegen. Auf das Feuer bin ich verfallen, da mir auf Grund der Theatertätigkeit kostenlos Kunststoffteile zur Verfügung standen, aus denen ich mit einem simplen Campingbrenner - 'Flammenwerfer' hat die Kritik geschrieben - Formen herausbrannte."

Und zur Präsentation: "Ein symbolischer Vorgang: Ich enthülle jetzt, jedoch nicht, indem ich die Bahnen einfach wegnehme, sondern die Hülle wegbrenne, faktisch die Nachvollziehung des Entstehungsvorganges. Eingeleitet habe ich es mit der Flammenschrift auf der Gasse vor der Galerie …"

[Letzteres eine Anspielung auf das Biblische Menetekel; Anm.]

Blöd nur, daß die dann bei der Premiere verwendeten Planen dicker waren als die vorab getesteten. Und entsprechend mehr Rauch verursachten; Anwohner riefen die Polizei, und die Journalisten berichteten später hauptsächlich von tränenden Augen.

 

Die Familie residierte mittlerweile - nach Aufenthalten in Substandard-Untermieten - in einer Gemeindewohnung: Klo und fließendes Wasser innen. (Die zuvor erworbene Mitgliedschaft bei der SPÖ dürfte das ihre dazu beigetragen haben.)

Eine unter Kreisky ersonnene Auflage, die Mansarden solcher Bauten möglichst Künstlern vorzubehalten, erwies sich als Glücksfall. Nebenan wohnte nämlich ein austro-amerikanisches Professoren-Ehepaar, das Stögers Leidenschaft für Kunst und Philosophie teilte. So kam es unter anderem, daß sein "Graphikon" - ein Leporello, ausgeklappt über sechs Meter lang - 1984 beim Internationalen Wittgenstein-Symposion ausgestellt wurde, danach im Französischen Kulturinstitut Wien (Palais Clam Gallas) und 1986 in der Oldfather Hall, Lincoln/USA. Später kaufte auch die Wiener Albertina ein Exemplar an.

Inzwischen hatte sich sein oben erwähntes Experiment jedoch zum Dauerzustand entwickelt; er verdiente den Unterhalt für die Familie bis zuletzt als Siebdrucker. Die Ehe war längst ein Alptraum: Die psychisch labile Gattin führte ein brutales Regiment, vor dem er sich (bei aller Wortgewalt kleinmütig angesichts faktischer Zores) hinter seine geliebten Bücher flüchtete. Erst nach einem jahrelangen Scheidungsprozeß, den sie absurderweise auch noch gewann, konnte er wieder frei arbeiten.

 

An der Seite seiner neuen Partnerin verwirklichte er danach Projekte wie das erwähnte "Graphikon", oder die 1989 im Theseustempel (Wien/Volksgarten) ausgestellte Installation "Diaphanion". Der Künstler dazu:

"Die Durchsichtigkeit (Diapháneia) wird in dieser Installation im engsten Connex zum dafür gewählten Ort in mehrfacher Weise thematisiert. Glasplatten (Format 100 x 100 cm) teilen den Raum in Quer- und Längsrichtung, sodaß ein Peripatos vorgegeben ist, der die mehrschichtige Bemalung der Glasflächen von beiden Seiten sichtbar macht (chronologische Durchsichtigkeit des Arbeitsvorganges), wobei die teilweise Transparenz der Farben eine wechselnde Intensität der realen Durchsichtigkeit ergibt. Zudem bilden die einzelnen Sujets (quasi 'naturhafte' Strukturen, denen 'geometrisierende' Formen gegenübergestellt sind) einen motivischen Zusammenhang, der von den beiden Schmalseiten des Raumes in der Längsachse jeweils zu seiner Mitte führt."

Anders ausgedrückt: eine Serie von Glasscheiben, beidseitig (aber jeweils nur teilweise) bemalt, und so aufgestellt, daß sich dem Betrachter beim Entlanggehen (grch.: Perípatos = Promenade; vgl.: Aristoteles / Peripatetiker) kontinuierlich neue "Durchblicke" erschließen.

 

Seine parallele Leidenschaft für das geschriebene, gesprochene oder dargestellte Wort hatte sich jedoch schon im "Graphikon" gezeigt. Unter Verwendung der gleichnamigen Dienstfahrpläne der Eisenbahn (dort: ein rechtwinkeliges Koordinatensystem, wobei Ordinate und Abszisse Zeit bzw. Ort der Züge bezeichnen - man erinnere sich an den Beruf seines Vaters) montierte er besagte Planabschnitte zwischen abstrakten Darstellungen bereits mit bildlich eingefügten Textpassagen.

 

Das "Monokel des Polyphem" verschob die Präferenzen.
Jahrzehnte angesammelten Wissens sollten ihre Umsetzung finden: als Text, von Graphik begleitet. Sein Opus magnum, wie er es selbst - nur bedingt ironisch - definierte.

Es ist anzunehmen, daß dabei von ihm in Ehren gehaltene Autoren wie Homer und Joyce Pate standen; oder auch Arno Schmidt, etwa die große Schuber-Ausgabe von "Zettels Traum".

Das Werk sollte offenbar vier Teile umfassen, mit den Titeln "Peregrinus (eine Introduktion)", "Fabian (eine Variation)", "Nobile (ein Interlegium)" und "Pudelwein (ein Supplement)". Im Nachlaß fanden sich nur die vorbereiteten Blätter zu Teil 1; sie wurden postum von seiner zweiten Lebensgefährtin, Helga Schicktanz, als Einzelband herausgegeben.

Wieweit diese Präsentation Stögers Intentionen entsprochen haben mochte, ist schwer zu sagen. Sicher, die Dame (die er am Sterbebett noch offiziell ehelichte; wohl aus juristischen Gründen) war seine Muse. Sie förderte ihn in jeder Hinsicht, und beschützte ihn auch ein wenig vor sich selbst, indem sie seinen Alkoholkonsum im Auge behielt. Die beiden verband eine innige Beziehung (deren Anfänge in "Zweier Trio" nachzulesen sind), und sie stand ihm - auch, was den Entstehungsprozeß seiner späteren Arbeiten betraf - so nahe wie niemand sonst.

Trotzdem erscheint dieser "Peregrinus" in seiner Aufmachung zu hübsch, so manche graphischen Elemente wirken zu sehr wie Illustrationen ... Wir halten uns daher ab kommender Woche lieber an jene sechs schmalen Bände, die der Autor 1982 - '87 selbst (mit dem Titelzusatz "- notizen") veröffentlichte.

Es handelt sich um Textstudien, die später Eingang in das Werk finden sollten: in überarbeiteter Form sowie adaptierter chronologischer Reihung, und vor allem via collagenartiger Kombination mit noch zu gestaltenden Bildsegmenten. Schon hier, in den "Notizen", formen Wort und Graphik aber eine Einheit, weshalb wir das ganze als (kommentiertes) Faksimile bringen.

 

Nur: Die berechtigte Frage, was da auf Sie zukommen wird, ist schwer zu beantworten.
Zitieren wir zunächst einmal Leute, die sich auskennen sollten; immerhin haben sie Beiträge zum Nachwort (des von Fr. Schicktanz 2007 zusätzlich herausgegebenen Sammelbandes) der "Notizen" verfaßt.

Die Kunst- und Literaturkritikerin Johanna Schwanberg:

" ... Nicht nur die Text-Bild-Kombinationen sperren sich gegen eine Entschlüsselung ... der Text erscheint als Gewebe aus aphoristischen Fragmenten, Textsplittern ... Oft hat man den Eindruck, als hätte sich die Sprache verselbständigt ... "

Der Kulturredakteur und Publizist Peter Kraft:

" ... legen die rhythmisierten, versifizierten Texte einen Vergleich mit den ähnlich zitier- und anspielungsfreudigen 'Cantos' von Ezra Pound nahe. Man könnte so von sechs zyklisch sich aneinanderreihenden epischen 'Gesängen' sprechen ... "

Elisabeth und Werner Leinfellner, Freunde des Autors:

" ... Hält man die verschiedenen Publikationen von Peter Stöger in der Hand, dann ist man zunächst in der - durchaus reizvollen - Versuchung, den theoretischen Apparat der formalen Literaturanalyse vom literarischen Strukturialismus bis zur Postmoderne und zur kognitiven Textanalyse auf sie loszulassen, vom Konzept der Textimmanenz über die Nichtlinearität, die definite Deskription, die erlebte Rede, die Intertextualität und die Polyphonie bis hin zum Leser als dem 'eigentlichen' Autor ... "

 

Haben Sie jetzt eine Vorstellung von dem Werk? Nein? Grämen Sie sich nicht - wenn Kritikern die Worte fehlen, drücken sie das immer möglichst kompliziert aus.

Versuchen wir es daher einfacher: Stöger erzählt Geschichten. Überlegungen, Erfahrungen (denn "Nichts ist so kurios wie die Realität"), Schlußfolgerungen ... wie die meisten ernstzunehmenden Autoren. Und wie jeder Künstler, der diese Bezeichnung verdient, wählt er dafür eine ihm genehme Form, die sich nicht aus merkantilen Gründen von vornherein eines der etablierten Genres bedient.

Schwierig für manchen Leser wird das bloß, weil der Verfasser nicht nur gern überschwenglich fabulierte und Witze riß, sondern dabei in herzhafter Rücksichtslosigkeit aus seinem gesamten Wissensreservoir schöpfte - einem Fundus, der im Laufe der Jahrzehnte beträchtliche Dimensionen angenommen hatte. (Nach Zeugenaussagen verwendete er z.B. den "Großen Brockhaus" - die 24bändige Ausgabe - nicht lange zum Nachschlagen, sondern las ihn; neugierig, Seite für Seite.)
Sein "Graphikon" hatte er als Stationen eines agnostischen Kreuz- und (Quer-)Weges bezeichnet. Das trifft sicher auch auf das "Monokel" zu; aber auch vieles mehr. Wenn man schon unbedingt eine vermittelbare Intention-des-Autors sucht, bietet sich vielleicht ein Zitat vom Beginn des "Peregrinus" an (das Sie in ähnlicher Form kommende Woche in den "Notizen" lesen werden):

 

BEREUT DAS FLAMMENGAUKELSPIEL!

(diese pastorenstimme kenn ich doch! aber was heißt: aurora pro nobis?!

noch liegt eos mit dem schnarchenden tithonos nachtwarm

zwischen den korokusfarbenen bettlaken .... )

EIN LICHTLEIN WILL ICH EUCH JETZUND AUFSTECKEN!

 

 

Am 25. 4. 1997 starb Peter Stöger.

Recht prosaisch, aber eines unangenehmen Todes; nur wenige Monate, nachdem ein Speiseröhrenkrebs diagnostiziert worden war - wohl eine Folge jahrelangen Einatmens von Druckerfarbendämpfen.

Er war ein eigensinniger Gelehrter, dem es Spaß machte, beständig mehr zu erfahren und das Erworbene - mit gebotener Respektlosigkeit - in neue Zusammenhänge zu stellen. Und zu erzählen: mit großer Geste, eine filterlose 3er in der Hand, und ein Krügel Bier vor sich.

Etwa von Robert Musils angeblicher Reaktion auf die konsternierten Kritiken zum "Mann ohne Eigenschaften": "Ich hab mich plagt beim Schreiben - sollen sich die Leut plagen beim Lesen."

 

[ Zur ersten Folge >> ]


EVOLVER-Redaktion

Peter Stöger


1939 - 1997

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