Editorial_14. 6. 2007

Banausen am Ring

Ein Gast-Editorial nicht nur für Klassikfreunde, sondern auch für Kenner der heimischen Polit-Operette: Hier erfahren Sie, warum Parteibuch und Packelei sogar beim Schwingen des Taktstocks entscheidend sind.    19.06.2007

Liebe EVOLVER-Leser und -innen!

 

Die jüngst erfolgte Bestellung der neuen Wiener Operndirektion war die politische Lachnummer überhaupt. Unsere umtriebige Unterrichts- und Kulturministerin bestellte ein Direktionsduo, das seine Arbeit in der Spielsaison 2010/11 aufnehmen soll: einen Herrn Dominique Meyer und den sich gern als Weltgröße sehenden Dirigenten Franz Welser-Möst (im folgenden kurz FWM genannt). Kanzler Gusenbauers Favorit für den Direktionsposten war jedoch der Startenor Neil Shicoff, mit dem das Regierungsoberhaupt - zumindest bis vor einer Woche - bestens befreundet ist (war?).

Zu den Personen des neuen Direktions-Duetts: Dominique Meyer ist in der internationalen Opernszene nicht unbedingt eine bekannte Größe, und auch das von ihm geleitete "Theatre de Champs Elysées" genießt nicht unbedingt Weltruf. Angeblich unterhält Meyer aber bereits seit einiger Zeit freundschaftliche Kontakte zum jetzigen Operndirektor Holender. Mehr gibt es vorläufig nicht über ihn zu sagen - und gerade das kommt interessierten Beobachtern der Szene recht merkwürdig vor. Es stellt sich nämlich die Frage, ob ein Haus von Rang wie die Wiener Oper nicht einen "g´standenen" Profi verdient hätte; einen, der schon lang ein gleichrangiges Haus geleitet hat. Was ist da bloß in die ehemalige Bankmanagerin und heutige Ministerin gefahren? Das könnte man ja genausogut den Filialleiter der Ortssparkasse Hintertupfing zum Vorstandsvorsitzenden eines weltumspannenden Bankenkonzerns ernennen ...

Der Linzer Dirigent FWM wiederum ist sowohl Favorit des Exkanzlers Schüssel als auch des amtierenden Operndirektors. Derzeit fungiert er als Chef des renommierten amerikanischen Cleveland Orchestra und des Zürcher Opernhauses. Im Lauf seiner Karriere hatte FWM hatte viele Mentoren und Protektoren - darunter auch Herbert von Karajan. Er durfte beispielsweise einst bei den Filmaufnahmen zu Tschaikowsky-Symphonien im Wiener Musikverein "assistieren" (das bedeutete, daß er vor den Wiener Philharmonikern herumwackelte, während Maestro Karajan im Regieraum die Kameraeinstellungen kontrollierte). Daß FWM viele Jahre danach immer wieder spöttische Bemerkungen über Karajan machte, könnte für seinen Charakter bezeichnend sein.

Der Mann hat jedenfalls nicht die Ausstrahlung eines Barenboim, Gergiev oder Thielemann, sondern wirkt eher bieder und beamtenhaft. Das Opernorchester, die weltberühmten Wiener Philharmoniker, darf also mit einem Dirigenten rechnen, der sich eher kuschel- und streichelweich denn kämpferisch und durchsetzungswillig verhalten wird. Vielleicht wird er sogar der erste musikalische Operndirektor der österreichischen Musikgeschichte sein, der vom Orchester "dirigiert" und den Musikern nicht bei der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen dreinreden wird.

Für das leichtgläubige österreichische Volk und sein Schmalspur-Feuilleton war Frau Minister Schmied dennoch plötzlich die große Heroine, weil sie mit ihrer Bestellung angeblich der "Freunderlwirtschaft" eine klare Absage erteilt hat. Nun mag Schmied zwar auf dem Heldenpodest Platz genommen haben, hat aber offensichtlich keine Ahnung, wie bröckelig das Fundament ist, auf dem dieses Podest steht. Das strahlende Grinsen, mit dem sie uns aus den Sonntagszeitungen entgegenblickt, könnte ihr schnell vergehen. Einerseits hat sie mit ihrer Aktion die Freund- und Kollegenschaft mit Kanzler Gusenbauer nicht unbedingt vertieft; andererseits könnte sich bald herausstellen, daß sie nur ein Werkzeug der politischen Gegenseite war.

Betrachten wir einmal den politischen Aspekt der eigentlich unappetitlichen Chose: Der amtierende Operndirektor, der uns noch zwei unendlich lange Saisonen beglücken darf, trat sein Amt als sozialistischer Gesinnungsgenosse an und wechselte später, als die Schüssel-ÖVP an die Macht kam, ganz schnell die Farbe (womit er einer bewährten österreichischen Tradition folgte).

Bei tiefergehender Betrachtung kristallisiert sich zudem heraus, daß eine SPÖ-Ministerin hinter dem Rücken ihres Chefs mit Hilfe des ÖVP-affinen amtierenden Opernchefs einen ebensolchen Dirigenten und einen Quasi-"Nobody" als Verwaltungsdirektor bestellt hat. Damit hat sie Kanzler Gusenbauer eine schallende Ohrfeige verabreicht - und die kriegt sie sicher irgendwann zurück. Schon heute meinen kritische Stimmen, daß Opernchef Holender die Frau Minister - virtuos wie stets in solchen Dingen - für seine Interessen eingespannt und "über den Tisch gezogen" hat, indem er ein Nachfolgerduo bestellen ließ, das formbar wie Wachs ist.

Für das Publikum wird sich mit der Neubesetzung voraussichtlich nicht viel ändern. Das Orchester wird hauptsächlich außerhalb des Hauses am Ring aktiv sein und in der Oper nur seine Pflicht erfüllen; Agenturen werden weiterhin Sängerbesetzungen in "Paketlösungen" erstellen dürfen (ob die Vokalisten nun zu den Stücken passen oder nicht); und die systemkonforme Journaille wird sich brav auf das neue Duo einschwören lassen - nach dem Motto: Holender befiehl, wir schreiben!

 

Also - WIR natürlich nicht. Der EVOLVER ist nämlich notorisch unabhängig und auch von solchen Beispielen beinahe perfekt inszenierter Freunderlwirtschaft nicht zu beeindrucken. Daher berichten wir auch weiter über Popkultur und verwandte Themen, wie es uns gefällt, und zwar täglich, gratis und hochprofessionell.

 

In diesem Sinne: Viel Spaß beim Lesen wünscht

 

Herbert Hiess (Gast-Editorialist und EVOLVER-Klassikexperte)

Herbert Hiess

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