Inhalt Prolog Baby,
the last dance
Der Traum Angst Morgentod
DIE LETZTE STREIFE

Der Wildwuchs verbarg das teilweise verfallene Gemäuer vor den Blicken Neugieriger. Aber wer war schon neugierig auf diese Ruine, in der die mit Abstand sonderbarste Familie einer ohnehin schon recht sonderbaren Population gelebt hatte? Ruth versuchte sich zu erinnern, wann sie den letzten Sproß der Kaempf-Familie zuletzt gesehen hatte. Jahre mußte es her sein. Damals, als sie den jüngeren Sohn eingegraben hatten - den "Kaempf-Trottel", wie ihn die Leute hier genannt hatten. War der alte Kaempf schon reichlich sonderbar gewesen, so trugen die völlig gegensätzlichen Verhaltensmuster seiner beiden Söhne einiges zum Ruf der Familie bei. Sonderlinge, alle miteinander, dachte Ruth, und erinnerte sich an ihre letzte Begegnung mit Alexander Kaempf. Er hatte sie kurz mit seinen dunklen, starren Augen angeblickt, als sie ihm die Hand gereicht hatte, um den obligatorischen Spruch abzulassen: "Herzliches Beileid." Welches Beileid? Dem "Trottel" weinte doch keiner nach, und schon gar nicht Alexander, der sich jahrelang einen Dreck um seinen debilen Bruder geschert hatte. Damals, als der alte Kaempf mitten in der Nacht plötzlich an seiner eigenen Kotze erstickt war, verdrückte sich der ältere Sohn noch in der gleichen Woche in die Stadt, und ließ den "Trottel" zurück - der vegetierte von diesem Tag an wie ein wildes Tier im Haus dahin.

Zweimal hatte Ruth einen Sozialarbeiter zum Haus gefahren, und zweimal hatte sie sogar auf das "Vieh" schießen müssen, das mit jenen, die es angeblich gut mit ihm meinten, ausgesprochen unsozial Kontakt aufnahm - einer hätte den Biß in die Kehle beinahe nicht überlebt. Nach diesen Erfahrungen hatten die Behörden in der Stadt die Weisung ausgegeben, den debilen Kaempf in eine geschlossene Anstalt zu überführen. Aber der Captain hatte keine besondere Lust gehabt, den "Trottel" im Gehölz aufzustöbern. "Sagen Sie denen, er sei verschwunden. Sollen die Stadtfräcke doch wen anderen auf die Sache ansetzen..."

Erst als der "Kaempf-Trottel" an einer Lebensmittelvergiftung krepiert war, kehrte endgültig Ruhe ein. Und dann kam plötzlich auch der ältere Bruder - der Doktor - aus der Stadt zurück, um den verfallenen Besitz angeblich wieder herzurichten. Jetzt konnte man das Anwesen kaum mehr sehen, so verwildert war das Grundstück. Toni hatte ihr einmal erzählt, Alexander Kaempf wäre bloß zurückgekehrt, weil sie ihn bei der Gerichtsmedizin gefeuert hätten.

"Travin hat´s mir am Telefon gesteckt: Sie haben den Kaempf auf dem Friedhof erwischt. Klar, einer der Leichen fleddert, hat keinen guten Stand in dem Verein ... und angeblich hat er auch mit Frauenleichen rumgemacht, die Sau!"

So wie sich das gehörte, lag Bodennebel über der dunklen Ebene, die dem wilden Pflanzenwuchs vorgelagert war. Und der Mond warf sein fahles Licht auf die letzten Dachziegel, die das Unkraut noch nicht überwuchert hatte. Unweigerlich wandte Ruth ihren Blick ab und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Und sie stieg etwas fester aufs Gaspedal, weil ja doch alles kein Film war. Ruth sah den roten Wagen nicht mehr, der auf der einsamen Weide geparkt war...

Das Heck scherte aus, als Officer Ruth Berger den Wagen schneller als erlaubt um die enge Kurve bei der alten Textilfabrik steuerte. Im letzten Augenblick bemerkte sie das Mädchen, das ganz und gar nicht auf eine staubige Landstraße gehörte - eher schon auf die breiten Boulevards der Stadt. Wäre die kleine Platinblonde nicht so auffällig gekleidet gewesen - ihr Lederzeug reflektierte das Scheinwerferlicht -, hätte Ruth sie viel zu spät gesehen. Sie bremste den Wagen und brachte ihn keine drei Meter vor dem Mädchen zum Stillstand. Die merkwürdige nächtliche Spaziergängerin trug ihre Stiefel in der Hand und drehte sich nun unsicher um. Ruth stieg aus.

"Brauchen Sie Hilfe?"