Stories_William Gibson im Interview

"Meine neue Droge ist Jetlag"

Stefan Becht und Markus Friedrich trafen den "Granddaddy des Cyberspace" wieder einmal zum Gespräch - und der EVOLVER präsentiert das Interview erstmals in seiner ungekürzten Fassung. Cyberpunk ist für Gibson "nur noch eine Pantonefarbe im bunten Farbfächer der Popkultur".    12.04.2010

"I´ve tur­ned in the ma­nus­cript of­ Ze­ro Hi­sto­ry, my new no­vel. Pu­bli­ca­tion da­te is Sep­tem­ber 7, 2010", schrieb Wil­li­am Gib­son am Diens­tag, den 30. März 2010, um 10.43 Uhr in sei­n Blog. Da­mit ist für den "Grand­dad­dy des Cy­ber­spa­ce", wie Gib­son sich selbst be­zeich­net­, auch schon al­les ge­sagt.

Be­vor es­ allerdings so­weit ist, darf sich der deut­sche Le­ser auf die Ta­schen­buchaus­ga­be von Gib­sons bisher letz­tem Buch Spook Coun­try freu­en, das Mit­te April 2010 im Hey­ne-Ver­lag unter dem Titel "Quellcode" er­schei­nt. Eine fik­ti­ve Zeitschrift na­mens "No­de", "so was wie WIRED, nur aus Eng­land ..."; die freie, da­für täti­ge Jour­na­li­stin Hol­lis Hen­ry, die ein­mal Kopf ei­ner kul­ti­gen Pop­band war und nun in L. A. für "No­de" virtuelle Kunst, "Lo­ca­ti­ve Art", recherchiert; ein welt­weit tä­ti­ger, wahr­schein­lich aus Bel­gien stammen­der Wer­be­magnat namens Hu­ber­tus Bi­gend, dem "No­de" an­schei­nend ge­hört; ein Geo-Hacker, der nie­mals im gleichen GPS-Plan­qua­drat schläft; der Jun­kie Mil­grim, der die Kunst­spra­che Vo­la­puk le­sen und schreiben kann; ei­ne Grup­pe ri­va­li­sie­ren­der Staats- und Ma­fi­as­öld­ner so­wie ein my­ste­ri­ö­ser Frachtcon­tai­ner, dem al­le nach­ja­gen - das al­les sind die In­gre­dien­zen von Gibsons "Spook Country"/"Quell­co­de". Der Roman des Amerikaners, der am 17. März seinen 62. Ge­burts­tag feier­te, wagt sich an eine literarische Definition unseres kul­tu­rel­len und ge­sell­schaft­li­chen Status quo.

 

Ste­fan Becht und Mar­kus Frie­drich, die Wil­li­am Gib­son erst­mals im Früh­jahr 2000 in Vancouver be­such­ten und in­ter­view­ten, spra­chen acht Jah­re spä­ter in­ Mün­chen mit dem Erfinder des "Cy­ber­spa­ce" über des­sen All­ge­gen­wär­tig­keit, die heu­ti­gen In­seln im Netz, containe­risier­te Infor­ma­tions-Ein­hei­ten, das wei­te­re Verschwin­den der Bo­hème, die Ein­sam­keit des Schreibens, das Goo­glen von Be­griff­lich­kei­ten und das "YouTuben".

 

 

EVOLVER: In Ihrem Buch sagt der Werbemagnat Hubertus Bigend zur Protagonistin Henry Hollis: "Sie sind Stückgut, Hollis." Was verstehen Sie unter Stückgut?
William Gibson: Na ja, das ist alles, was nicht in einen Fracht-Container paßt. Mr. Bigend erhält ansonsten fast nur genormte, also containerisierte Informationen. Das ist wie der Unterschied zwischen Mainstream-Medien und Blogs. Blogs sind Stückgut, wenn sie gut sind. Gute Blogs liefern Informationsbrocken, die nicht hierarchisch gefiltert sind, um den Zielsetzungen der klassischen Medien zu genügen. Dieser gängige Schlagzeilenfaktor interessiert mich am allerwenigsten. Und Hollis Henry ist Stückgut in dem Sinn, daß sie Bigend ihre sperrigen, aber authentischen Informationen liefert.

 

EVOLVER: Also wie ein Blogger oder jemand, der Kommentare in ein Blog schreibt?
Gibson: Ja, sie ist unabhängig, sammelt ihre Informationen beiläufig und produziert damit ein ganz eigenes Informations- bzw. Medienformat.

EVOLVER: Als wir uns im Jahr 2000 trafen und unterhielten, zeigten Sie sich besorgt über das Verschwinden der Bohème und den Verlust ihrer Refugien. Könnte das Web so ein Refugium bieten?
Gibson: Ich glaube, die Bohème migriert ins Web. Aber es ist schwierig, im Web unentdeckt zu bleiben. Das moderne Marketing hat derart ausgefeilte Such- und Aufspürmechanismen entwickelt, daß jede Gruppe Menschen, die interessante Inhalte generiert, sofort lokalisiert wird - spätestens, wenn sie in den Top 10 bei YouTube landet.

Erst vor einiger Zeit ist mir klar geworden, daß mein vorletztes Buch "Pattern Recognition" ("Mustererkennung") eigentlich ein Vor-YouTube-Roman war. Dieses Buch könnte man heute nicht mehr schreiben, weil die Handlung keinen Sinn mehr ergäbe. Die Filmchen, um die es in "Pattern Recognition" ging, waren für eine exklusive Kultgemeinde gemacht. Heutzutage wären sie einfach alle in YouTube.

 

EVOLVER: Und würden mehr verkaufen als nur Schuhe ...

Gibson: Genau!

 

EVOLVER: Was halten sie davon, daß jemand das fiktive Blatt "Node" aus Ihrem neuen Buch aufgegriffen und eine "Node Magazine"-Website erstellt hat?

Gibson: Es ist ja nicht das erste Mal, daß so etwas passiert. Mittlerweile habe ich längst aufgehört zu zählen, wie viele Firmen und Unternehmen sich Namen aus meinen Büchern entliehen haben. Es sind schon einige - viele. Bereits bei "Pattern Recognition" hat jemand eine Website mit Referenzen zu jedem einzelnen Detail erstellt. Das Überraschende an der "Node Magazine"-Website ist aber, daß sie komplett und online war, bevor das Buch überhaupt veröffentlicht wurde. Das ist ein Zeichen von etwas wirklich Neuem. 

 

EVOLVER: Wie war denn das möglich?

Gibson: Das funktionierte in etwa so: Jemand hat sich ein Vorabexemplar von "Spook Country" beschafft und den Text unter seinen Freunden aufgeteilt. So mußte jeder nur einen kleinen Teil des Textes bearbeiten bzw. recherchieren. Das Material wurde dann zusammengefügt, und fertig war die Website. Den Organisator der "Node Magazine"-Website habe ich während einer Lesereise kennengelernt; er lebt in einer ländlichen Gemeinde in Colorado.

 

EVOLVER: Sie haben uns einmal gesagt, daß es Sie stören würde, wenn es Raubkopien Ihrer Bücher gäbe. Digitale Kopien Ihrer Texte im Internet seien aber in Ordnung. Hat sich diese Sichtweise im Hinblick auf die Entwicklung der E-Books geändert?
Gibson: Nein. Alles ist Werbung. Manche Leute behaupten, das sei der Preis der Berühmtheit. Dein Buch wird nicht kopiert, wenn du nicht schon bekannt bist. Raubkopiert zu werden ist eine Art Qualitätssiegel. Es beweist, daß das Produkt auf dem Markt einen Wert hat, kopierenswert ist. Ich habe nie bemerkt, daß dadurch Buchverkäufe geschmälert würden. Es handelt sich um unterschiedliche Bedürfnisse und Märkte.

EVOLVER: Und stimmt das auch nach der Einführung von Amazons E-Book-Reader Kindle noch? "Spook Country" wurde ja auch im Kindle-Format veröffentlicht.
Gibson: Wirklich? Das ist mir neu.


EVOLVER: Ach so? Hat man Ihnen kein Kindle-Testgerät gegeben, damit Sie das Ding ausprobieren können?
Gibson: Nein. Ich habe  über die Jahre ein paar E-Book-Lesegeräte bekommen. Alle wurden sofort als Türstopper ...

EVOLVER: ... von Ihrer Tochter verwendet. Wir erinnern uns.

Gibson: Ja, dafür sind die Dinger eben gut.

 

EVOLVER: Und daran hat sich nichts verändert? Oder kippt diese Situation gerade um?
Gibson: Also, ich bin mir da nicht sicher. Mein Freund Cory Doctorow, der über solche Dinge immer sehr gut informiert ist, hat dieser Tage dem Kindle eine ziemlich schlechte Kritik verpaßt. Das E-Book hat sich noch nicht durchgesetzt, auch nicht mit dem Kindle.

 

EVOLVER: Kommen wir auf Ihr Buch zurück: Welche Bedeutung hat der Titel "Spook Country"?
Gibson: Es ist "Spook" im modernen amerikanischen Sinn: Geheimagent, Wirtschaftsspion. Aber auch "Spook Country" in dem Sinn, daß Amerika zu dem Gespenst dessen geworden ist, was es einmal zu sein glaubte - dieses idealisierte Amerikabild, an dem viele noch festhalten und meinen, dafür einstehen zu müssen. Dabei haben sich Amerika und die Welt längst komplett verändert.

 

EVOLVER: Dann ist "Spook Country" also auch die Zukunft des Cyberspace?
Gibson: Na ja ... Als ich 1979 den Begriff "Cyberspace" erfand und ihn verwendete, um eine imaginäre technologische Zukunft zu skizzieren, beschrieb ich eine andere Welt, eben den Cyberspace. Dieser Raum war damals noch nicht zugänglich, er war dort, wir waren hier.  Heute hat sich das umgekehrt: Der Cyberspace ist hier, jetzt, heute, da, wo wir gerade sind. Der andere Raum ist nun der, in dem es keinen Netzanschluß gibt, wo das Mobiltelefon nicht funktioniert. Mein Freund Bruce Sterling nannte diesen Raum "Insel im Netz" - eben eine Lücke im Netz. Wow, es gibt kein WiFi hier, was sollen wir jetzt nur tun?

Es gibt einen Essay, der die "Straße als Plattform" beschreibt. Er handelt von all den digitalen, drahtlosen Transaktionen, die jeden Tag auf unseren Straßen vor unseren Fenstern durch die Luft rasen. So entsteht ein schwindelerregendes und schönes Bild all der herumfliegenden Datenpakete unserer hektischen, geschäftigen, digitalen Welt. Leider bin ich nicht selbst darauf gekommen. Es hätte die große Ansprache des großen Mr. Bigend im Buch sein können: "Ihr Narren. Ihr merkt gar nicht, daß ihr schon im Cyberspace lebt."

 

EVOLVER: Wenn wir heute und jetzt im Cyberspace leben, sind wir dann alle Cyberpunks?
Gibson: Nein, nein. Ach, darüber ließe sich ein ganzer Essay schreiben, aber garantiert nicht von mir.  Im 19. Jahrhundert  gab es in England eine Vorliebe für das Präfix "Elektro". Es gab Elektro-Dies und -Das, vom Elektro-Staubsauger bis zum Elektro-Gesundheitsdrink. "Elektro" war deren "Cyber".

Als dann elektrische Geräte zu alltäglicher, unexotischer Technologie wurden, wurde auch "Elektro" unsexy. Cyberpunks stammen aus einer Zeit, in der die digitale Technologie noch nicht allgegenwärtig und unsexy war. Heute muß sich das Marketing für digitale Produkte, zum Beispiel bei Apple, schon sehr anstrengen und Millionen von Dollars ausgeben, um ein Produkt wie das Airbook ein kleines bißchen sexy, ein kleines bißchen neu erscheinen zu lassen. Heute ist Cyberpunk als Wort nur noch eine Pantonefarbe im Farbfächer der Popkultur - ein Farbton, mit dem ein Regisseur den Stil seines Videos beschreiben könnte: "Weißt du, es ist halt so eine Retro-Cyberpunk-Atmosphäre." Oder ein Modedesigner sagt: "Meine Herbstkollektion wird total Cyberpunk", und die Menschen würden verstehen, was gemeint ist und daß sie so aussehen würde wie die Mode in "Matrix". Das ist es, glaube ich, was aus dem Wort Cyberpunk geworden ist. Und der heutige Internet-Untergrund, in dem beispielsweise russische Spam-Netzwerke agieren, hat nichts mehr mit Cyberpunk zu tun. Das ist einfach organisierte Kriminalität, die nur auf Profit abzielt. Das hat nicht die Cyberpunk-Qualitäten des einsamen Kämpfers gegen das System, sondern ist nur noch banal und langweilig.

 

EVOLVER: Welche Rolle spielt dann die Kunst in unserer heutigen Welt?
Gibson: Künstler sind - da muß ich gleich noch einmal bei Bruce Sterling stehlen:"Bohemiens sind die Traumreisenden der industriellen Zivilisation." Bohemiens sind das kreative Unterbewußtsein und ein absolut essentieller Teil der industriellen Zivilisation. Ich finde diesen Satz geradezu brilliant. Das Problem mit der Bohème heute ist, so Sterling weiter, daß wir größtenteils im postindustriellen Zeitalter leben, daß wir Dinge vermarkten und bewerben - und für Bohemiens ist sowas halt keine besonders gute Umgebung. Als wir noch eine reine Industriekultur waren, brauchten wir Menschen, die Ideen komplett außerhalb des üblichen Rahmens erträumten.

EVOLVER: Das heutige Problem der Kunst scheint zu sein, daß ihre Ideen von Werbung und Marketing aufgesaugt werden.
Gibson: Ja. Und zwar sehr schnell.

EVOLVER: Sie erwähnen im Buch bestimmte Orte und Produkte, wie etwa das Mondrian und das Standard Hotel in LA, die Modemarke APC und selbst den VW Phaeton, der ja in Deutschland als Flop gilt. Welche Bedeutung haben diese Symbole für Sie? Sollen wir die alle kennen oder nachgooglen?
Gibson: Es ist wirklich nicht nötig, die spezifische kulturelle Bedeutung dieser Dinge zu entschlüsseln, um die Geschichte genießen zu können. Für mich sind das notwendige naturalistische Elemente in meinem Text, weil wir ja alle dauernd von Marketing und sehr ausgefuchster Werbung überschwemmt werden, buchstäblich von der Wiege bis ins Grab. Da verstärke ich lieber bestimmte Marken, damit die Leser erkennen: Ja, das ist meine Welt, in der die Geschichte spielt. Für mich sind das Zeitgeist-Anker.

 

EVOLVER: Welchen Unterschied gibt es für Sie zwischen dem Schreiben eines Blogs und dem Schreiben eines Buchs?
Gibson: Der ist ungefähr so groß wie der Unterschied zwischen einem Telefongespräch und dem Schreiben eines Buchs. Abgesehen von der Tatsache, daß beide aus Wörtern bestehen, haben sie nichts gemein. Der Charme des Bloggens ist, daß in der Kürze die Würze zu liegen scheint. Ich erhalte viel bessere Reaktionen auf viel weniger Worte.

 

EVOLVER: Ist es nicht auch ein anderes Gefühl, wenn Sie ein Buch fertigstellen? Das wird gedruckt, ausgeliefert und landet bei einem anonymen Käufer. Im Web sind Sie im gleichen Raum wie Ihre Leser, erhalten direkte Reaktionen ...
Gibson: Das Web gibt mir einen Raum, in dem ich mit einem Teil meiner Leserschaft interagieren kann. Das ist etwas, das ich vor der Erfindung des Bloggens nicht hatte. Vorher war es einfach nicht möglich, diesen Kontakt auf eine angenehme und befriedigende Art zu pflegen. Es hat aber meine Arbeitsweise nicht verändert. Obwohl ich besorgt war, daß ich eine Grenze überschreiten könnte, von der ich noch nicht einmal wußte, wo sie genau liegt, und daß darunter die Integrität oder Ernsthaftigkeit meiner Arbeit leiden könnte. Beides ist nicht eingetroffen. Aber die Arbeit ist auch nicht weniger einsam als zuvor.

 

EVOLVER: Dann hat das Internet Ihre Art zu arbeiten gar nicht verändert?

Gibson: Die sehr junge Tatsache der Googlebarkeit der Bedeutung eines jeden Begriffs führt dazu, daß ich mir nun beim Schreiben sehr bewußt bin, daß alle meine Texte von irgendjemanden nachgegooglet werden können. Manchmal hat das den Effekt, daß diese Google-Suchen bis zu meinen Quellen führen. Es ist, als würden die Menschen in meinen Textspuren spazierengehen. Das ist wirklich neu. Natürlich betreiben Literaturwissenschaftler seit Jahrhunderten Quellenforschung, doch dazu mußte man bisher in die Bibliothek gehen und Kataloge wälzen. Google hat das total verändert. Alles ist Hypertext. Man muß die Begriffe nur in Google eintippen und auf "Suchen" klicken. Deswegen ist es auch egal, ob ein Begriff auf einer Website verlinkt ist oder nicht. Man verlinkt den Begriff einfach selbst durch die Google-Suche.

 

EVOLVER: Was sind Ihre typischen Startpunkte im Web?

Gibson: Für mich ist es spannend, einfach alles zu googlen, was mir in den Sinn kommt. Das führt zu den interessantesten Links. Und nicht nur alles zu googlen, sondern auch alles zu "YouTuben". YouTube ist eine noch viel bessere Zeitverschwendung als Ebay.

 

EVOLVER: Soll aus den Büchern "Pattern Recognition" und "Spook Country" eine Trilogie werden?
Gibson: Oohh - das weiß ich nie vorher. Ich möchte lieber morgens aufwachen und feststellen, daß mein nächstes Buch keinerlei Verbindung zum vorherigen hat. Das ist zwar noch nicht passiert, aber für mich ist es essentiell, daß ich diesen Freiraum habe, bevor ich mich auf eine Geschichte einlasse.


EVOLVER: Es ist ja interessant zu sehen, daß Ihre beiden aktuellen Protagonisten weiblich sind. Wo sind die coolen Helden wie in "Neuromancer" geblieben?
Gibson: Frauen sind einfach die angenehmere Gesellschaft, besonders für den Autor. Das ist wahr. Ich ertrage es, ein bis zwei Jahre mit ihnen zusammen zu sein. Mit den coolen Typen funktioniert das für mich nicht mehr. Milgrim war eine tolle Gesellschaft - aber der ist auch kein cooler Typ.

EVOLVER: Dann wollen wir mal sehen, was im nächsten Buch aus ihm wird ...
Gibson: Das frage ich mich auch. Um ehrlich zu sein, ich habe da schon eine Idee, was so passieren könnte. Ich weiß nur noch nicht, ob es so funktionieren wird.


EVOLVER: Sagen Sie einmal, weil wir uns ja dabei kennengelernt haben: Rauchen Sie eigentlich noch?
Gibson: Nein. Erstaunlicherweise rauche ich schon seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr.

EVOLVER: Dann sind sie vollständig clean?
Gibson: Total clean.

EVOLVER: Aber Ihre neue Droge scheint Google zu sein?
Gibson: Nein. Meine neue Droge ist Jetlag.

Stefan Becht & Markus Friedrich

Facts & Figures: William Gibson

Photo: © Karen Moskovitz


Wil­li­am Gib­son wur­de am 17. März 1948 in­ Con­way, Süd Ca­ro­li­na ge­boren. Sein Va­ter starb, als Gib­son sechs Jah­re alt war, die Mut­ter zwölf Jahre später. Mit neunzehn floh der Waisenknabe vor der Ein­be­rufung zum Mi­li­tär - und damit dem Fronteinsatz in Vietnam - nach Ka­na­da. Wie sein Autoren­kol­le­ge und Freund Bru­ce Sterling zog auch Wil­li­am Gib­son einige Zeit durch Europa, bis er sich 1972 im ka­na­dischen Van­cou­ver nie­der­ließ, wo er heu­te noch wohnt. Dort stu­dier­te er an der Universität Englische Sprache und Literatur und war als Assistent in einem Kurs für Filmgeschichte tätig.

Wil­li­am Gibson war fast dreißig, als er 1976/1977 zu schreiben be­gann ("Wir brauch­ten das Geld") - also in der Zeit, in der auch Punk auf­kam. Seine er­ste Kurz­ge­schich­te "Fragments of a Hologram Rose" ver­kauf­te er 1977 für sage und schreibe 23 US-Dollars an die Zeit­schrift "UnEarth". 1981 er­fand er in sei­ner Er­zäh­lung "Bur­ning Chro­me" den Be­griff des "Cyber­spa­ce" - ein un­end­li­cher, di­gi­ta­ler Raum, in den sich die Men­schen über die Di­rekt­ver­bin­dung zu­ ei­nem Com­pu­ter ein­log­gen, ein global vernetzter Da­tenraum hin­ter dem Bildschirm, ganz ähn­lich dem, was heu­te das In­ternet, das Web ist.

Doch erst 1984, mit "Neu­ro­man­cer", ge­lang Gib­son der in­ter­na­tio­na­le Durch­bruch. Gleich­zei­tig wur­de er­ damit zum Be­grün­der ei­nes neu­en Lebens­ge­fühls, das - aus der Mu­sik kom­mend - durch ihn zu ei­nem eigenstän­di­gen li­te­ra­ri­schen Gen­re wur­de: dem Cy­ber­punk. 1986 leg­te Gib­son mit dem Buch "Count Zero"/"Biochips" nach und ver­voll­stän­dig­te 1988 mit "Mo­na Li­sa Over­dri­ve" die so ent­stan­de­ne "Neuromancer"-Trilogie.

 

Erst fünf Jah­re spä­ter er­schien wie­der ein Ro­man: "Vir­tu­al Light"/"Virtuelles Licht", mit der Idee der "Autonomen Zo­ne", die Gib­son auf der Oakland Bay Bridge in San Fran­ci­sco an­sie­del­te. Wur­den im "Virtuellen Licht" digi­talen Da­ten mit Hil­fe ei­ner Bril­le Kör­per­lich­keit verliehen, so ist die "Idoru" (1996) mit dem schö­nen Na­men Rei Toei die digita­le Schöpfung per se­. Ge­bo­ren im Netz, ist sie die "Wunsch­ma­schi­ne ... ein Ag­gre­gat sub­jek­ti­ven Be­geh­rens ... kein Fleisch ... ei­ne An­tark­tis von In­for­ma­tio­nen ..." Spätestens mit "Ido­ru" war Gib­son in der Gegenwart ange­kom­men. Gleichzeitig mit dem Er­schei­nen des Bu­ches in den USA stell­te die ja­pa­nische Mo­de­lagen­tur Ho­ri­Pro den er­sten di­gi­ta­len, nur im Computer er­schaffe­nen Menschen der Welt vor: Ky­o­ko Da­te. In dem 1999 erschie­nenen Buch "All Tomorrows Par­ties"/"Fu­tu­re­ma­tic" schreibt Gib­son das Schick­sal der "Ido­ru" und sei­nes bei­na­he au­ti­sti­schen Netzläufers Co­lin Laney fort und führt seine Figu­ren dort zu­sam­men, wo die Ge­schich­te begann: auf der Oak­land Bay Bridge. Damit schließt er die "Bridge-Trilogie" ab.

 

In "Pat­tern Re­cogni­tion"/"Mu­ste­rer­ken­nung" nimmt Gib­son 2003 die Netzvi­deo-Web­si­te You­Tu­be vor­weg, wenn­gleich er­ sich ganz dem Hier und Heu­te ver­haf­tet zeigt, wie auch in sei­nem Buch "Spook Country"/"Quellcode" (2007/2008), in dem er­ mit "Geo-Tag­ging", "Augmen­ted Re­al­ity" und der Kunst­spra­che "Vo­la­puk" spielt, aber im­ Grunde ge­nom­men un­se­ren kul­tu­rel­len Sta­tus quo ana­ly­siert und festschreibt. Der nicht von un­ge­fähr für den 7. Sep­tem­ber 2010 (al­so kurz vor dem neun­ten Jah­res­tag des 11. Sep­tem­ber 2001) an­gekün­dig­te Ti­tel "Ze­ro Histo­ry" soll die lo­se Fort­setzung von "Pat­tern Re­cogni­tion" und "Spook Coun­try" sein, wo­mit auch diese noch na­men­lo­se Tri­lo­gie in gewohn­ter Gib­son-Ma­nier abgeschlossen wäre.

 

Wil­li­am Gib­sons Bü­cher er­schei­nen in Deutsch­land bei Klett-Cot­ta und Heyne.

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