Ein echter Klassiker?

Mit der Neuveröffentlichung seines ersten Tonträgers "At Home/Not At Home" in einer erheblich erweiterten Fassung beschreitet Wim Mertens den Weg, den auch Coppola mit "Apocalypse Now Redux" gegangen ist: Willkommen zum musikalischen Director´s Cut!

Wim Mertens gründete 1980 die Minimal-Truppe Soft Verdict und veröffentlichte ein Jahr später die Maxi-Single "At Home/Not At Home" auf dem Avantgarde-Label Les Disques du Crépuscule, dem er auch bis heute treu geblieben ist.

Im Laufe der darauffolgenden Jahre war Mertens dann in seiner produktivsten Phase, in der er sowohl orchestrale Stücke komponierte als auch Soloklavierplatten aufnahm, zu denen er in seiner einzigartigen Falsettstimme und seiner selbst erfundenen Lautsprache auch Gesang beisteuerte.

Der kommerzielle Höhepunkt seiner Karriere wurde dann 1989 erreicht, als Peter Greenaway Mertens mit dem Soundtrack zu "Der Bauch des Architekten" beauftragte - eine äußerst willkommene Abwechslung zu den sonst obligaten Musikbegleitungen durch Michael Nyman. Kurz darauf überraschte Mertens dann mit seinem ersten CD-Boxset "Alle Dinghe" - einer Komposition, die über zehn Jahre gebraucht hat, um das Licht der Welt zu erblicken, und sich dann über sieben CDs erstreckte. War "Alle Dinghe" noch relativ konsumentenfreundlich gestaltet, so stellte Mertens seine Hörerschaft dann spätestens mit "Gave Van Niets", bestehend aus einem Zehn-CD-Set, auf eine harte Bewährungsprobe. Das Werk bestand teilweise aus Solokompositionen für Fagott oder Saxophon und forderte dem Zuhörer höchste Konzentration und große Aufnahmebereitschaft ab, wenn es in seiner ganzen Tragweite rezipiert werden sollte.

Nun wurde Mertens erstes Werk "At Home/Not At Home" nicht nur wiederveröffentlicht, sondern vom Label auch als Erweiterung der beiden Nummern auf ein ganzes Album voll unveröffentlichter Bonustracks angepriesen. So ganz kann man diese Behauptung allerdings nicht stehenlassen, denn es handelt sich bei dem "neuen" Material zu einhundert Prozent um Variationen des bekannten Themas. Jedoch ist dies wiederum eine in der klassischen Musik weitverbreitete Praxis; würde man bei den Werken eines Philip Glass alle Stücke abrechnen, in denen dieser sein zentrales Kompositionsmotiv wiederholt, hätte man kaum mehr als eine halbe CD von ihm übrig.

Beeindruckend ist auch die Besetzung bei "At Home/Not At Home": Neben Mertens selbst spielen unter anderem Peter Gordon und der von Tuxedomoon bekannte Gitarrist Peter Principle mit. Die Reprise des Stückes am Ende der CD ist eine Live-Solo-Klavier-Aufnahme von Wim Mertens in Polen, die der Nummer eine gänzlich veränderte Note hinzufügt.

Wim Mertens ist sicher einer der wichtigsten und talentiertesten Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts, und es ist eigentlich unerklärlich, daß er bisher nicht den Stellenwert eines Philip Glass oder Michael Nyman in der modernen Klassik erreicht hat. Wahrscheinlich liegt das aber auch an der fehlenden Promotion seines Labels Crépuscule - doch wer weiß, vielleicht fühlt sich Mertens gerade in seiner Outsider-Rolle ganz besonders wohl?

Zur Zeit liegen noch keine Kommentare vor.