Folk und das Stimmwunder

Andreas Scholl ist Vokal-Feinspitzen schon länger ein Begriff. Zahlenmäßig sind Countertenöre (Anm.: eigentlich männliche Altisten) ja eher dünn gesät, vor allem in dieser Qualität; und ihr Repertoire finden sie meist im barocken und frühklassischen Bereich. Allein deshalb ist die Folksong-Kollektion "Wayfaring Stranger" eine Besonderheit.

Für das Wort Folksong gibt es viele Definitionen - eine der vielsagendsten ist, daß ein solches Lied "eine traditionelle und ihrem Wesen nach anonyme Musik widerspiegelt, in der sich das Leben des Volkes in einer Gemeinschaft ausdrückt". Diese Art der Volksmusik wurde in Zeiten ohne Massenkommunikation als Möglichkeit gesehen, wichtige Ereignisse und Gedanken im Gedächtnis zu behalten und zu überliefern.

"Wayfaring Stranger", die vorliegende Produktion mit angloamerikanischen Folksongs, war vor allem ein Wunsch von Andreas Scholl. Der Countertenor stellte die Lieder zusammen und arrangierte sie gemeinsam mit Craig Leon für ein modernes Kammerensemble.

Scholl ist eine Klasse für sich. Er besitzt eine biegsame und flexible Stimme; keine Höhe scheint ihm zu schwierig zu sein. Bei ihm steht die Interpretation des Textes im Vordergrund - Musik und Wort verschmelzen zu einer Synthese. Man merkt, daß ihm diese Songs ein besonderes Anliegen sind. Das Orpheus Chamber Orchester und ein paar Instrumentalsolisten (z. B. Laute, Banjo, Orgel, Harfe) begleiten ihn meisterhaft.

Die neunzehn Nummern auf dieser CD stellen eine homogen ausgewählte Sammlung dar, wobei der "Grundton" vielleicht etwas zu schwerfällig und schwermütig ist. Aus diesem Grund ist es auch gar nicht so einfach, das Album in einem Stück durchzuhören; andererseits überzeugt der künstlerische Gehalt des Tonträgers.

Der Repertoirewert von "Wayfaring Stranger" ist sehr hoch; ob die Scheibe bei den Absatzzahlen ein ebenso hohes Niveau erreichen wird, ist fraglich. Wahrscheinlich ist die Liedersammlung eher eine Liebhaberangelegenheit.

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