Abrechnung mit der Vergangenheit

Thierry Jonquets Krimi "Die Goldgräber", in dessen Mittelpunkt eine Reihe von grausigen Morden steht, ist eine überaus spannende Genrearbeit mit traurigem historischen Hintergrund.

In einem heruntergekommenen Pariser Viertel wird eine halbverweste Leiche gefunden: Ein junges Mädchen, gefesselt und geknebelt, einen Plastiksack über den Kopf gestülpt, die rechte Hand sauber abgetrennt. Kurz danach findet die Polizei die genauso grausam verstümmelte Leiche einer polnischen Malerin. Lange Zeit tappen die Ermittelnden, Oberkommissar Rovère und Ermittlungsrichterin Nadia Lintz, im Dunkeln. Erst nach dem vierten Mord kristallisieren sich Zusammenhänge heraus, die Nadia und Rovère schließlich nach Polen führen, wo der Fall auch gelöst werden wird...

Die Krimis aus der französischen Tradition des Roman Noir sind bekannt für ihre sozialkritische Richtung und ihre realistische Darstellungen des Umfeldes von Opfer und Täter. Diese Tendenz fällt auch in "Die Goldgräber" auf. Thierry Jonquet zeichnet ein eher düsteres Bild von Paris: Kriminalität und Rassismus sind an der Tagesordnung, Häuser und ganze Viertel verfallen, arbeitslose Jugendliche tyrannisieren Mitmenschen und sind zur Prostitution gezwungen. Aber auch "Freunde und Helfer" leben nicht gerade im Schlaraffenland. Brutale Verhörmethoden, Betrug, Mord und familiäre Grausamkeit prägen den Polizeialltag.

Thierry Jonquets nüchterner Erzählstil läßt wenig Platz für Ironie. Der Autor spart nicht mit detaillierten Beschreibungen von ekelerregenden Szenen. Eine große Anzahl von realistisch dargestellten Figuren - ein alter Mann, der Nadia ständig beobachtet und bei jeder Gerichtsverhandlung auftaucht, ein gutsituierter Arzt, Nadias hilfsbereiter Wohnungsvermieter, polnische Kleinverbrecher - bereichern die Szenerie und vergrößern den Kreis der möglichen Täter. Meist folgt der Leser den Nachforschungen Rovères und Nadias. Einzelne Kapitel sind vom Mörder selbst erzählt und erklären, wie und warum er seinen Opfern nachgestellt und sie kennengelernt hat.

Aufmerksame und geübte Leser entlarven wahrscheinlich schon viele Seiten vor dem Ende den Mörder. Aber sein Motiv bleibt bis zum Schluss rätselhaft und macht das Buch zu einer unglaublich spannenden Lektüre. Der Grund für die Mordserie führt nämlich in die Vergangenheit, in die Zeit des polnischen (und französischen Kollaborations-) Faschismus, mit der der Autor schonungslos abrechnet. Bemerkenswert sind dabei die Parallelen zwischen den ungeheuerlichen Geschehnissen der 40er Jahre in Polen und den ermordeten Frauen im Paris der Gegenwart, die von Jonquet intelligent und geschickt in Verbindung gebracht werden.

Am Ende bleibt die Verzweiflung - die des Mörders, der anderen Figuren und des Lesers. Verzweiflung über ein trauriges Stück Geschichte, über die Kaltherzigkeit und Kaltblütigkeit mancher Menschen und über die tragischen Konsequenzen für die Gegenwart.

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Über den Autor:
Thierry Jonquet, 1954 in Paris geboren, war nach dem Studium der Philosophie und Ergotherapie als Ergotherapeut in verschiedenen Kliniken und als Lehrer tätig. Heute widmet er sich ausschließlich dem Schreiben und arbeitet als Szenarist fürs Fernsehen. Er schrieb zahlreichreiche Romane, auch für Jugendliche, und mehrere Kriminalromane, die bei Gallimard in der "Série Noire" erschienen sind. Der Roman "Die Goldgräber" wurde in Frankreich als TV-Serie verfilmt.