Come to Daddy Cunningham

Wer kein MTV besitzt - oder, falls doch, beim Hinzappen immer nur bei denselben fünf heavy rotierenden R & B-Nummern landet - hat die Videos in "Clip Cult" vielleicht verpaßt. Doch auch wer sie kennt, hat die von den "Rapid Eye Movies"-Betreibern als "Exploding Cinema" untertitelte Kompilation so wahrscheinlich noch nicht gesehen: auf Kinoformat, in voller Länge und unzensiert.

Das Musikvideo konnte sich erst in den 90er Jahren so richtig emanzipieren. Entstehung und Florieren von elektronischer Musik, Dance und DJs ermöglichte die Loslösung von schablonenhaften Formeln, da es hier keine aufgemascherlten Bands und Entertainer beim Herumhopsen abzulichten galt. Zwar blieb der Videoclip weiterhin kommerzieller Werbe- und Imageträger, aber in dem Maß, wie die neuen Artists von der Bildfläche in den Hintergrund verschwanden, wurde das Promotion-Vehikel frei für kreative Inputs. Visuelle Experimente, Spielhandlungen oder assoziative optische Spielereien - ermöglicht auch durch neue Computertechniken - verliehen dem Ding auf einmal so etwas wie künstlerischen Anstrich.

Heute gilt zumindest der nicht-mainstreamige Teil der kostenintensiven Pop-Artikel als eigenständige Kunstform, in der Regisseure beständig Grenzen und Konventionen erweitern. Nicht selten landen sie deshalb als hoffnungsvolle Talente (wie früher die Werbefilmer, z. B. Ridley Scott) beim (Hollywood-)Spielfilm, der solche Blutauffrischungen bitter nötig hat. Prominentes Beispiel ist Spike Jonze, dessen coole Beastie-Boys-Videos den Weg zu (einer vermutlich prosperierenden) Karriere und dem verschrobenen Meisterwerk "Being John Malkovich" ebneten.

Aber nicht er ist der absolute Gott des abseitigen Musikvideos, sondern Chris Cunningham. Der Brite setzte mit schaurig-schönen Meilensteinen völlig neue Maßstäbe in punkto Inhalt und Ästhetik: düstere Mini-Dramen in bizarren Welten, die von perversen Gestalten, kühl-technoiden Mensch-Maschinen und kranken Phantasien bevölkert sind - und deren Intensität man sich kaum entziehen kann. Kein Wunder, daß der als Mastermind kultisch verehrte Roboterbastler in der Kino-Compilation "Clip Cult" gleich mit sechs von insgesamt zwölf Videos vertreten ist: "Come On My Selector"/Squarepusher, "Second Bad Vilbel"/Autechre, "Afrika Shox"/Leftfield, "All Is Full of Love"/Björk und den extremen Aphex-Twin-Videos "Windowlicker" und "Come to Daddy", einer schwarzweißen Geisterbahnfahrt, die zu Recht preisgekrönt wurde und Musikjournalisten weltweit zur Ekstase brachte. Und nach dem gescheiterten Co-Projekt "AI" mit Stanley Kubrick soll Cunningham nun gerüchteweise William Gibsons "Neuromancer" verfilmen.

Unter dem Rest, der zum Teil musikalisch etwas angejahrt wirkt, ragen noch Spike Jonzes witziges Fatboy-Slim-Video "Praise You", das brillante Anime von Koji Morimoto für Ken Ishiis "Extra" und der nur aus Schrift bestehende Alex-Gopher-Clip "The Child" von Antoine Bardou Jacquet heraus.

Gutes Ding für Aficionados.

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