Cinemascope fürs Gehirn

Downbeat, angereichert mit Ethno-Percussions? Ansätze experimenteller "World Music"? Beim neuen Album von 310 müssen derartige Klassifizierungsversuche zwangsläufig versagen. Und das ist auch gut so.

Joseph Dierker (Seattle) und Kollege Tim Donovan (New York) alias 310 schaffen mit der spielerischen Vielschichtigkeit der Kreativen die Quadratur des Kreises, indem sie Minimalavantgarde, collagenartig aufbereitete Ambience-Teppiche, fette Hiphop-Beats, Reminiszenzen an 70er-US-Soundtracks, Ragga-Rhythmen, Radiotapes und Jazzfunk ineinanderrühren, filtern und zu einem audiophilen Erlebnis der Extraklasse mischen.

Ihr Album "After All" bietet großartige Musik quer durch den Gemüsegarten - mit so vielen Schattierungen, daß Beschreibungen wie "emotionales Wechselbad" noch stark untertrieben wären. Laut Tim Donovan hatten die neun Stücke schon während der Aufnahmesitzungen einen nicht unwesentlichen therapeutischen Effekt, waren die letzten Jahre für die beiden Musiker doch etwas hektisch. Die Harmonien bleiben griffig und einfach (wunderbar das Gitarren-Lick des Openers); manchmal hallen die Melodien wie Lieder unserer Kindheit, Erinnerungen an lange Vergangenes. Verträumt und schläfrig plätschern die Sounds dahin, bis der Alltag wieder anbricht und Straßenlärm unsere nächtlichen Visionen zunichte macht...

Assoziationen zu Jah Wobble + The Invaders of the Heart drängen sich auf; der sporadische Gesang von Andrew Sigler, der 310 auch bei Live-Einsätzen in Europa unterstützt, erinnert aber auch ein wenig an Sir Freddie Viadukt, den grotesken Minister of Noise, dessen Werke auf Peaceville erschienen sind. Alles in allem klingen 310 jedoch ungemein eigenständig. Aus den Ideen, die hier in jeder einzelnen Nummer stecken, machen Minderbegabte für gewöhnlich ein ganzes Album, wenn nicht zwei. "After All" ist faszinierend und spannend vom Anfang bis zum Ende.

Die Art und Weise, wie Joseph Dierker und Tim Donovan ihre Musik-Dub-Stücke produzieren, mutet fast anachronistisch an. Ausgerechnet in einer Zeit, wo taube Trendfetischisten von MP3, Minidisc und ähnlichem Schrott fabulieren, schwören die beiden Sound-Experten auf Tapes (!), die sie einander quer über den Kontinent schicken - per Schneckenpost wohlbemerkt, nicht per E-Mail! So bauen sie ihre Tracks Schicht für Schicht, Spur für Spur zusammen, bis zum finalen Mixdown. Die gute alte Cassette kommt also wieder zu Ehren und beweist zum x-ten Mal, daß analoge Aufnahmen deutlich mehr Atmosphäre und Druck erzeugen als digitale.

So richtig zum Zurücklehnen und Entspannen regt 310s Album allerdings nicht an, da das darin verwobene Material doch zu kontroversiell und unterschiedlich ist. Die Musik läßt einen nicht mehr los, verselbständigt sich im Graubereich zwischen Wachsein und Schlaf, wie halberinnerte TV-Screens, die langsam ausblenden. "After All" sei daher allen Audiophilen empfohlen, die in ihren Hörerlebnissen mehr als kommerzielle Berieselung suchen und ihre Zeit gern mit akustischen Impressionen verbringen, die durchaus das Zertifikat "Widescreen" verdient haben.

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