Nachtklavier

Anläßlich der sehr gelungenen neuen EP "Prickle" stellt sich die überaus brennende Frage: Wer ist eigentlich Mira Calix? Das Label Warp hat alles versucht, damit nur ja niemand hinter Miras wahre Identität kommt, doch uns entging - wie üblich - nichts.

Chantal Passamonte, so Miras Name im wirklichen Leben, wuchs im südafrikanischen Durham auf. Auf ihrem letztjährigen Debütalbum "One On One" befindet sich ein Kinderphoto, aufgenommen auf einem einsamen Strand, sehr einsam. Das graue Alien auf der Rückseite stakst auch etwas verloren durchs Gemüse; überhaupt hat Chantal eine Schwäche für Covers, die wie von Kinderhand gezeichnet aussehen. Daher liegt der Schluß nahe, daß "Chantal Passamonte" als Schriftzug in kribbeliger Ölkreideschrift doch etwas zu mühsam zu entziffern gewesen wäre. "Mira Calix" flutscht da eindeutig besser, nicht wahr?

Vor zehn Jahren verließen Miras Eltern Südafrika. Die talentierte Tochter faßte in England Fuß und jobbte quer durchs Land - von einem Plattenladen in Soho/London über Gucci und Esquire, für die sie als Modephotographin arbeitete, bis hin nach Sheffield, wo sie in der Presse/Marketing-Abteilung von Warp Records Promos verpackte und Interviewtermine vergab. Dort lernte sie auch ihren Mann, Sean Booth (ja genau, den von Autechre) kennen. Nebenbei legte sie als "female DJ", so die unnoble englische Bezeichung auf den Flyers, fleißig auf, und eines Tages beschloß sie endlich, eigenes Songmaterial aufzunehmen, klangtechnisch unterstützt und animiert vom Herrn Gemahl und anderen Warp-Künstlern.

Erste Aufnahmen wurden vorsichtig unter die Leute gebracht, doch auch das entging uns nicht. Der erste unter dem Namen Mira Calix dokumentierte Release ("Pin Skeeling") erschien 1998 als unscheinbare, kaum angekündigte 10-Inch, koproduziert von Disjecta mit denkwürdigen Boards-of-Canada- und Vendor-Refill-Remixen. Es folgten ein Sampler-Beitrag namens "Too Slim For Suicide" von der ansonsten schlechten Compilation "Extreme Music from Women" und letztes Jahr eben das erste eigene Album.

Wer solche Freunde hat, braucht sich um den Nachhilfeunterricht in Sachen Klangdesign keine Sorgen zu machen. Natürlich hat Mira Calix inzwischen ein eigenes Studio, aber trotzdem hört man gerade auf "One On One" sehr schön, wo ihre "roots" liegen. Die Isolation des schöpferischen Prozesses, Nachtarbeit, das düstere, steril/kalte Element - all das, was an der elektronischen Musik vieler Warp-Künstler (Aphex Twin, Autechre, Seefeel) so vertraut befremdend wirkt, kommt auch hier zur Entfaltung,

Doch halt! Das war nur ein leichtes Kratzen an der Oberfläche. Legt man durch sorgfältigeres Hören tiefere Schichten der Kompositionen frei, findet man schöne, eigenwillige, melancholische Musik, gewürzt mit Disjecta-like Percussion-Sounds, fraktalen Beat-Fetzen und verzerrten, zwischen gehaucht und gesprochen vorgetragenen Lyrics/Vocals. Der Autechre-Einfluß machte sich nur anfangs fast ärgerlich bemerkbar, doch da gab es ja auch das verträumte Melodien spielende Kinderklavier, die metallisch federnden, resonanten "field recordings/athmospheres", das Klappern, die Clicks und die Cuts.

Die fünf Nummern enthaltende neue EP "Prickles" (der letzte Track ist ein Andrea-Parker-Remix des Album-Songs "Skin With Me") ist die logisch kausale Fortsetzung von Mira Calix´ Arbeit. Die vier neuen Lieder klingen noch eigenständiger und befreiter als das Material auf "One On One": schöne Atmosphären, sanfte Streicher, "edgy beats" und auch das gute alte Klavier, verhallt und leicht verstimmt. Sehr gut.

Fazit: eine Empfehlung an alle, die anspruchsvolle Seelenstrips schätzen und nebenbei der Meinung sind, daß es mehr KünstlerINNEN in der elektronischen Musik geben sollte. Ewig diese kapuzen/sweaterbewehrten Jungs hinter den Laptops, das nervt!!!

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